Ein Plädoyer für gehobene Sprache

Unsere Sprache verliert das Angesicht

Von Uwe Förster

Wer sich die Sprache dienstbar machen will, der muß die Fähigkeit entwickeln, den ganzen sprachlichen Reichtum zu nutzen. Dazu gehört auch die gehobene Sprache, gehören ihr Vokabular, ihre grammatischen Formen und ›ihre‹ Weise, Wörter zu wählen, sie zu Sätzen zu verknüpfen und aus ihnen Texte zu weben. Aber: Ist es nicht anachronistisch, sich mit der gehobenen Sprache zu beschäftigen in einer Zeit, die sich vom Zwang der Etikette befreit hat, in der »die Würde der Alltagssprache« zum Progrannm wurde, die den Slang zur Selbstverständlichkeit hat werden lassen? Auch die Medien bedienen sich dieser Sprachebene, und die Universitäten machen sie zum Forschungsziel. Jedoch besteht die Gefahr, daß der Gegenstand der Sprachforschung nicht erweitert, sondern nur verschoben wird: Was an unteren Stiletagen hinzugekommen ist, das hat man »oben« hinweggenommen. Was droht, das ist eine Amputation sprachlicher Möglichkeiten. Aber wird da nicht auf etwas verzichtet, was wir nicht mehr brauchen, weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert haben, weil wir keine Oberschicht haben, weil wir uns kulturell nivellieren? »Nicht jeder braucht alles«, heißt es im Vorwort zum »Kleinen Duden«, der nur jedes dritte Wort des »normalen« Rechtschreibdudens verzeichnet. Selbst dieses kleine Buch hat rund einhundertundfünfzig »gehobene Wörter«. Dies zeigt: Ohne das »Gehobene« wäre unsere Sprache nicht komplett. Aber ist das Gehobene noch lebendig? Und wenn ja, wo und wann? Die Lebendigkeit zeigt sich schon darin, daß das Gehobene nicht das Abgehobene ist, sondern daß es eine enge Verknüpfung gibt zwischen den Stiletagen: zwischen der Umgangssprache, der Standardsprache und der gehobenen Sprache: »Unser Leben währet siebzig Jahr«, heißt es nach Luther in den Psalmen. Das Verb währen gilt heute als gehoben, nicht aber die zum Wortstamm gehörenden Bildungen während und Bewährung. Das war nicht immer so. Im Nibelungenlied beispielsweise ist währen ein »gewöhnliches« Verb : »diu hohzit do werte / unz an den vierzehenden tac.« (Die Hochzeit dauerte bis zum 14. Tag.) Statt bis sagte man am Anfang des l3. Jahrhunderts noch unz. Dieses Wort ist untergegangen, wie so viele andere Wörter auch: michel = groß, dagen = schweigen, triuten = Beischlaf halten. Die Zahl der untergegangenen Wörter ist so groß , daß Nabil Osman sie zu einem kleinen Lexikon (1971) versammeln konnte.
   Es gibt auch stilistische Senkungen: Manches, was früher normalsprachig war, findet sich heute in den unteren Stiletagen. Denken Sie nur an unsere Wörter Weib und Gesinde.

Nicht immer im Dienst der Musen
Wir drücken uns nicht differenziert aus, wenn wir stilistisch von »unten« nach »oben« sprechen. Gehobenes Sprachgut wird in den Wörterbüchern oft zusätzlich als »selten«, als »veraltend«, als »dichterisch« bezeichnet. Nicht einmal diese Unterklassen sind genau. Nicht jede literarische Epoche brachte Kunstwerke hervor, die sprachstilistisch gehoben sind. Schon ein Blick in die Daten deutscher Dichtung von Herbert und Elisabeth Frenzel (1962) [16,90 Mark bei Amazon.De] zeigt dies: Unsere erste Klassik, die staufische, war eine Formkultur. Die Dichter jener Zeit waren, wie die damalige Oberschicht, geprägt von einer inneren Hochstimmung, vom hohen muot, der sich auch in einer stilis sprachlichen Form ausprägte, die es so in der althochdeutschen Epoche nicht gegeben hatte und die schon nach achtzig Jahren mit dem beginnenden Spätmittelalter wieder verfiel. Angeregt durch Luthers Bibelübersetzung, entdeckte die Renaissance den Sinn für die Schönheit der Prosa. Kaum eine Zeit war vom Religiösen so geprägt wie das Barock, dessen Dichtungen alle Stiletagen spiegeln. Die Aufklärung brachte eine klare, nüchteme Sprache, die universitätsfähig wurde, die Empfindsamkeit gipfelt in Klopstocks Messias, bringt eine Empfindungs- und Sprachgewalt, die auf die Zeitgenossen gewirkt hat »wie eine Offenbarung« (Frenzel) . Die Weimarer Klassik strebte nach dem Schönen und dem Erhabenen, auch in der Sprache. In der Romantik war der Sprachstil einerseits archaisch, um ein historisches Kolorit zu erzeugen, andererseits steigerte er alle nur denkbaren Illusionen. Im Biedermeier (1820 bis 1850) haben wir einen Durchschnittsstil, wahrscheinlich den gepflegtesten in unserer Literaturgeschichte. Der Idylle folgte die Revolution, die Dichtung des Jungen Deutschlands und des Vormärz: »Die Dichter stehen nicht mehr ... allein im Dienst der Musen, sondern auch im Dienst des Vaterlandes, und allen mächtigen Zeitbestrebungen sind sie Verwandte. Ja, sie finden sich nicht selten im Streit mit jenem schönen Dienst, dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über der Kunst vergessen machen«, schrieb Wienbarg. Der Realismus sah den Menschen in seiner Arbeit, im Naturalismus dominierten Dialekt, abgebrochene Sätze; ja selbst Verstöße gegen die Regelgrammatik galten als Ausdruck des Natürlichen. Das mußte Gegenströmungen provozieren. Sie erreichten ihren Höhepunkt im Kreis um Stefan George. Die Hauptaufgabe bestand darin, »das Wort aus seinem gemeinen alltäglichen Kreis zu reißen und in eine leuchtende Sphäre zu heben« (August Hermann Klein). Im Expressionismus war die Sprache teils barock, teils verlor sie alles schmückende Beiwerk und beschränkte sich auf eine Reihung von Hauptwörtem.
   Aber nicht nur die literarischen Epochen unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zur gehobenen Sprache voneinander, sondem auch die einzelnen Vertreter innerhalb der literarischen Epochen.
   Wer sich für die deutsche Literatur, auch für die vergangener Jahrhunderte, interessiert, der begegnet der gehobenen Sprache. Und sie wirkt über den Kreis der Literaturliebhaber hinaus, insbesondere durch Kleinformen wie das Gedicht und das Kirchenlied. Arm würden wir, wollten wir diese Tradition vernachlässigen.

Nicht nur fromme Erinnerungen
Wenn man »mit bestimmter innerer Erwartung über eine gewisse Zeit hin auf ein Ereignis« wartet - so das Duden-Wörterbuch -, dann harrt man der Dinge, die da kommen sollen, wie es in Anlehnung an ein Bibelwort heißt (Lukas 21, 26) : Dieses harren ist heute gehoben, lebt aber noch, so bei Konrad Lorenz : »Hier harren noch ... Fragen der Beantwortung.« Zur Bewahrung des Wortes harren hat das (böse) Sprichwort »Hoffen und Harren macht manchen zum Narren« beigetragen, desgleichen ein Lutherlied aus dem Jahre 1524 : »Aus tiefer Not schrei ich zu Dir« . Darin heißt es : »... und seiner Güte trauen, / die mir zugesagt sein wertes Wort. / Das ist mein Trost und treuer Hort. / Des will ich allzeit harren.«
   Das Wort Kopf ist prosaisch, schon seiner Herkunft nach. Es bedeutet ursprünglich Trinkschale. Und das ist wohl ein (scherzhafter) Vergleich zur Hirnschale. Soll sich aber bei der Nennung des Kopfes das Begleitgefühl »ehrwürdig« einstellen, so sagen wir Haupt, also ein gehobenes Wort. Zu seiner Präsenz dürfte Paul Gerhardt beigetragen haben, ein lutherischer Theologe, der vor über dreihundert Jahren eines der innigsten Passionslieder schrieb: »O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn.« Hier lebt in deutscher Sprache weiter, was seit dem hohen Mittelalter lateinisch gesungen wurde, nämlich das »Salve caput cruentatum« des Arnulf von Löwen.
   Vieles, was wir heute in den Kirchen singen, hat eine lateinische Tradition, die oft Jahrhunderte weit zurückgeht. Denken Sie nur an das »Te Deum laudamus«. Die deutsche Version, die heute gesungen wird, nämlich »Großer Gott, wir loben Dich«, stammt aus dem Jahre 1771, verfaßt von Ignaz Franz. Das war ein katholischer Herr.
   Wenn ich »Herr« sage, so benutze ich ein geläufiges Wort. Weniger bekannt ist seine Herkunft. Das Hauptwort Herr basiert auf einem Komparativ. Der Herr ist der Hehrere, der Ältere, der Ehrwürdigere. Die Grundform zum abgeschliffenen Komparativ Herr lebt nur noch als gehobenes Wort: hehr, das bedeutet »vornehm, herrlich, heilig«. Vielleicht sprechen wir dann und wann von »hehren Zielen«. Aber in den Kirchenliedern, da kommt hehr immer noch vor, so auch in »Großer Gott, wir loben Dich«. Den Beginn der vierten Strophe formulierte Ignaz Franz vor über zweihundert Jahren so: »Der Apostel heil'ger Chor, / der Propheten hehre Menge / schickt zu Deinem Thron empor / neue Lob- und Dankgesänge.« Dies zeigt auch: Die Wirkung »gehoben« geht nicht nur vom Wort aus, sondern auch vom Satzbau. Hier sind es die vorangestellten Genitive (»der Propheten hehre Menge« statt »die hehre Menge der Propheten«).
   Eindrucksvoll finde ich den Hymnus »Veni Creator Spiritus«, zu deutsch: »Komm, Schöpfer Geist, / kehr bei uns ein, besuch das Herz der Kinder dein...« Ich sage dies, ohne mich zu zieren. Dieses »sich zieren« ist abwertend, es bezeichnet eine gekünstelte Zurückhaltung. Aber das einfache Verb zieren, das gilt als gehoben. Wir finden es in der dritten Strophe des erwähnten Liedes: »O Schatz, der siebenfältig ziert, / O Finger Gottes, der uns führt ...« So die Übersetzung von Heinrich Bone aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts.
   Das geistliche Leben in Deutschland ist aber nicht nur fromme Erinnerung, sondern auch lebendige Gegenwart: Es ist erst wenige Jahre her, daß eine Frau, gebürtige Jüdin, Assistentin des Philosophen Edmund Husserl, spätere katholische Ordensfrau, seliggesprochen wurde: Edith Stein. Den 61. Psalm hat sie im Jahre 1936 als Kirchenlied nachgedichtet: »Erhör, o Gott, mein Flehen, / hab auf mein Beten acht.« Die Habtachtstellung ist als Substantivierung eines militärischen Kommandos vielen Österreichern noch in wenig angenehmer Erinnerung, aber das Verb achthaben ist die gehobene Variante zu achtgeben. Dies zeigt auch ein Satz Thomas Manns : »Sie hatten im Sprechen und Lauschen des Weges kaum achtgehabt« (Königliche Hoheit).
   Ich habe für die letzten fünf Jahrhunderte je ein Beispiel dafür gebracht, wie gehobenes Sprachgut im Kirchenlied lebendig bleibt. Es gibt eine doppelte Versuchung, sich dieser Tradition zu entledigen: die rigorose Modernisierung alter Texte und die Vernachlässigung des geistlichen Liedes schlechthin.

Politik und Pathos
Gehobenes Sprachgut ist auch in politischen Texten lebendig. Es ist etwa zwanzig Jahre her, daß Außenminister Scheel Seiner Exzellenz dem Königlich Britischen Botschafter schrieb: »... unter Bezugnahme auf das Schreiben ... beehre ich mich, Euer Exzellenz hiermit ein Memorandum ... zu übermitteln ...« Dieser Brief vom Dezember 1971 schließt mit der Formel: »Genehmigen Sie, Exzellenz, die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.« Vieles von dem ist althergebrachte diplomatische Etikette, aber sie lebt.
   Als man das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland formulierte, war die gehobene Sprache unentbehrlich. Ich bringe nur wenige Beispiele, entnommen den Grundrechten und der Präambel. Sie beginnt: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren ...« Dieses wahren weisen die Wörterbücher als gehoben aus, dagegen das Wort beseelt - zu meiner Verwunderung -nicht. Weiter heißt es, daß man auch für jene Deutsche gehandelt hat, »denen mitzuwirken versagt war«. Solche Formulierungen signalisieren: Das ist für Politik der Text der Texte, ihm ist ein gewisses Pathos eigen. Dies gilt auch für einige Passagen in den Grundrechten: »Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.« Die gehobene Sprache macht aus bloßer Information einen moralischen Appell: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.« Ein fester Wille läßt sich auch gehoben vernehmen: »Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates.« Andere Formulierungen weisen Rechte als Privilegien aus: »Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.« Und - höchst aktuell -: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Wenn jemand ein Grundrecht durch eigene Schuld einbüßt, so verwirkt er es.
   1955 fanden in Moskau deutsch-sowjetische Gespräche statt mit dem Ziel, diplomatische Beziehungen zwischen beiden Ländern aufzunehmen. Es kam zu einer Krise. Denn die Sowjetunion forderte die bedingungslose Aufnahme der Beziehungen. Die bundesdeutsche Delegation jedoch wollte damit die Entlassung aller deutschen Kriegsgefangenen verbunden wissen. Carlo Schmid hat dies in seinen Erinnerungen (1979) beschrieben: »Der Dialog wurde heftig, die Spannung im Raum unerträglich.« Schmid erhielt das Wort und sagte unter anderem: »Ich möchte vorausschicken, daß im Namen des deutschen Volkes am russischen Volke Verbrechen begangen worden sind wie vielleicht nie in der Weltgeschichte. Ich betone ausdrücklich, daß die moralische Verantwortung für diese Dinge und die Haftung für die Folgen auch auf den Schultern der Menschen liegt, die sich dieser Verbrechen nicht schuldig gemacht haben. Denn auch diese haben zum mindesten dieses Regime nicht zu verhindern vermocht... Ich rufe darum nicht die Gerechtigkeit an. Ich appelliere an die Großherzigkeit des russischen Volkes... Lassen Sie Gnade walten und diese Menschen zurückkehren zu denen, die auf sie warten.« Hier hat das Einstreuen gehobener Ausdrucksformen die Bitte verstärkt, die Lauterkeit dessen, der sie vortrug, betont, desgleichen seine Bescheidenheit und seinen Ernst.
   »Das war das rechte Wort und auch die rechte Art. Jetzt können wir weitersprechen«, erwiderte Chruschtschow spontan.
   Carlo Schmids Rede gehört in die Geschichtsbücher der Schulen, damit die gehobene Sprache auch dort gepflegt wird, als ein wichtiges sprachliches Element. Denn das ist die gehobene Sprache tatsächlich, bis hinein in unser tägliches Sprechen. Den schon erwähnten »Kleinen Duden« bin ich Wort für Wort durchgegangen und habe mir notiert, was ich für gehoben halte. Da die stilistischen Markierungen im »Kleinen Duden« sparsam sind, habe ich mein eigenes Stilurteil am sechsbändigen Duden überprüft, an seinen stilistischen Bewertungen. So erhielt ich eine Liste von hundertfünfzig Wörtern, die nach gängiger Meinung als gehoben gelten. Es sind Wörter, die fast zum Grundwortschatz gehören, nicht zu den verbalen Paradiesvögeln.

Vom Gehobenen in allen Stilebenen
Unsere Sprache ist geprägt von festen Wendungen. In ihnen lebt das gehobene Wortgut. Wer sich schämt, möchte am liebsten sein Antlitz verhüllen, manchmal glauben wir, das nackte Antlitz der Macht zu erkennen. Antlitz finden wir in Luthers Bibelübersetzung 86mal, vermutlich löste sich das Wort deshalb aus der Standardsprache. Antlitz bedeutet eigentlich das »Entgegenblickende«. Das Grundwort (got. wlaiton »umherblicken«, wlits »Aussehen, Gestalt«) lebt im Deutschen nicht mehr. Wir sprechen davon, daß wir jemanden von Angesicht kennen oder daß ein anderer im Angesicht des Todes eine Entscheidung traf. Es ist kaum möglich, in diesen Wendungen Angesicht durch das Gesicht zu ersetzen. Das gilt auch fürs Literarische: »Die Gunst des königlichen Angesichts hat sie verwirkt, die Mordanstifterin«, heißt es in Schillers Maria Stuart. (Siehe die im Sprachdienst 1989, S. 134, abgedruckte Vortragseinladung mit einem anhand des Beispiels Antlitz - Angesicht - Physiognomie - Facies - Gesicht - Visage - Fresse vorgeführten Modell der Stilschichten.)
   Das Merkmal »gehoben« ist für manche Wörter regional begrenzt. Das Wort Roß weckt in Mittel- und Norddeutschland die Vorstellung »edles Pferd«, während dem Süden dieses Begleitgefühl fremd ist, und zwar schon lange. So wird in einem Rätselbuch des 16. Jahrhunderts scherzhaft gefragt, »in welchem Landt kein Pferdt sey«. Die Antwort heißt: »In Schwaben, da sein Roß.« Die Etymologie von Roß geht sogar noch unter das Normalsprachliche: In Don Quichottes Rosinante steckt rocin, und das bedeutet Klepper.
   Wenn der Adler seine Schwingen ausbreitet, so ist damit die Vorstellung einer besonderen Flugkraft verbunden. Die Dichter spüren das, so Brentano : »Da sah ich mit tauschweren Schwingen / Den Engel der Wüste gehen.« Wir übertragen dies Bild, wenn wir von den Schwingen der Düsenflugzeuge sprechen.
   Gehobener als Schmuck klingt Geschmeide (das Wort ist verwandt mit Schmied): »Bis ihr leuchtend Brautgeschmeide / Ganz von Tränen war betaut«, heißt es bei Uhland. Das Wort Geschmeide ist also gehoben - wie einige andere Sammelbezeichnungen auch, man denke an Gezweig und Gefilde. Geschmeide bezeichnet etwas Wertvolles. Andere gehobene Wörter vermitteln uns das Gefühl, daß etwas Besonderes wichtig ist, etwa das Wort Wandel: »Ist ein Wandel eingetreten, die Bekehrung, auf die ich gehofft?« schreibt Fontane in Frau Jenny Treibel. [Inzwischen ist ›Wandel‹ zum Modewort verkommen, meist zusammen mit ›weltweiter‹ ... Fritz Jörn, 1999]
   Wichtig, wertvoll, verehrungswürdig, das sind die Begleitgefühle, die gehobene Wörter vermitteln. Solche Konnotationen stellen sich aber nicht ein, wenn wir Raumpflegerin statt Putzfrau sagen oder wenn wir das Altersheim (verbal) durch die Seniorenresidenz ersetzen. Diese Wörter mit Aufwertungstendenz werden von den Wörterbuchautoren nicht als gehoben markiert. Offenbar gehört zum Merkmal »gehoben« die Tradition. Sie ist es auch, die eine Distanz schafft zwischen dem Sprecher und dem, worüber er spicht. Ein solcher Abstand macht ein Sprechen über manches erst möglich, beispielsweise wenn menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen zu charakterisieren sind wie Anmut, Einfalt und Hoffart.
   Gehobenes Wortgut kann auch eine Intensität betonen, so beim Beschreiben von Seelenzuständen. Verwiesen sei auf Wörter wie Begier, Wehklage, Wonne oder siegestrunken. Oft liegen das Standardsprachliche und das Gehobene nebeneinander. Das Wort harmlos ist in aller Munde, vom Verb sich härmen haben wir nur noch das zweite Partizip, etwa in der Wendung »eine verhärmte Frau«, und das Substantiv Harm kennen wir lediglich aus einem Weihnachtslied (»In den Herzen wird's warm / Stille sind Kummer und Harm«). Harm war ein Lieblingswort des Hainbundes: »Eine Schale des Harms, eine des Zorns wog Gott dem Menschengeschlecht«, schrieb Hölty 1773. Das Erhabene kann dem Lächerlichen benachbart sein. »Das innere Brennen des Menschen gegenüber Gott« (so Trübners Deutsches Wörterbuch) nennt die Mystik seit alters Inbrunst, heute noch geläufig in der Wendung »Inbrunst des Glaubens«. Wenn wir aber sagen, einer singe mit Inbrunst, so kann das auch scherzhaft oder ironisch gemeint sein.
   Sprechen wir davon, daß jemand seiner Familie das Leben zur Pein macht, so wird Intensität deutlich, und zwar durch Pein, durch ein Wort, das aus der römischen Rechtssprache kommt (poena = Strafe) und später ein Kirchenwort wurde. Die Wonne kann das höchste Glück bezeichnen (das Wort ist urverwandt mit Venus), kann aber auch abwertend sein im Sinne von »böser Spaß«, etwa wenn wir sagen, jemand habe seine Wonne daran, andere zu schikanieren. Ja das Wort kann »hinabsteigen« bis ins Umgangssprachliche: »Er ißt Schlagsahne mit Wonne« - das heißt mit großem Vergnügen.
   Das Seitenteil eines Bücherregals oder einer Kirchenbank heißt fachsprachlich Wange, ein Wort, das in diesem Zusammenhang keinen besonderen Ausdruckswert hat. Als gehoben empfinden wir das Wort, wenn es einen Gesichtsteil bezeichnet. Das wird schlagartig klar, wenn wir die Wörter Backpfeife und Wangenkuß nebeneinanderstellen. Die Wange lebt seit dem Mittelalter: »Ich saz auf eime steine, / und dahte bein mit beine: / dar uf satzt ich den ellenbogen: / ich hete in mine hant gesmogen / daz kinne und ein min wange.« So Walther von der Vogelweide.
   Ich möchte zwei weitere Beispiele für Brücken zwischen gehobenem und fachsprachlichem Wortgut erwähnen. Dieses erwähnen ist normalsprachlich. Aber wenn wir die Vorsilbe er- weglassen, dann haben wir ein gehobenes Verb, etwa in dem Satz »Ich wähnte sie auf Reisen«. Der Wahn bezeichnet im Neuhochdeutschen eine irrige Annahme, eine, an der mit Verbissenheit festgehalten wird, sogar bis zum Pathologischen. Was Wunder also, daß Wahn auch ein medizinischer Fachausdruck wurde. Noch ein Beispiel: »Der weite Weg ... entschuldigt Euer Säumen«, heißt es in Schillers Piccolomini. Das Verb säumen empfinden wir als gehoben, nicht aber das Versäumnisurteil und den Säumniszuschlag, zwei auf der Basis säumen gebildete juristische Fachausdrücke.
   Das Nachdenken über das gehobene Sprachgut zeigt uns, wie komplex unsere Sprache ist, wie nahe Gegensätzliches in ihr beieinander liegt. Vom Gehobenen gibt es Brücken zum Regionalen, zum Normalsprachlichen, zum Umgangssprachlichen, zum Abwertenden, zum Ironischen, zum Scherzhaften, zum Fachsprachlichen. Wenn wir das Gehobene ganz beiseite ließen, brächen wir diese Brücken ab.
   Die Wörterbuchautoren betonen zu Recht, daß gehobenes Wortgut feierlichen Gelegenheiten vorbehalten bleiben solle, weil es in der Standardsprache nicht selten gespreizt wirke. So kann unfreiwillige Komik entstehen. Sie ist bisweilen nur vermeidbar, wenn wir da Gehobene seiner selbst entkleiden, indem wir es ironisieren. Aber gehobenes Sprachgut ist heutzutage nicht nur in ironischer Einfärbung verwendbar. Ein Zitat aus Christa Wolfs Erzählung Sommerstück (1989) zeigt es : »... während zum erstenmal die grüne Haustür sich vor ihr öffnete, auftat wäre wohl das passende Wort«. Das Gehobene schlechthin lebt also, ist auch heute noch unentbehrlich. Das läßt sich leicht zeigen, jedenfalls für viele Sinnbezirke und Verwendungssituationen.
   Aufforderungen sind eine heikle Sache. Sie lassen sich um so leichter vortragen, je angemessener die stilistische Einfärbung ist: Betont werden kann die Bitte («Dürfen wir Sie noch einmal bemühen?«), der Nachdruck («Wir heißen Euch hoffen!«) oder die Distanz («Die Entscheidung stellen wir Ihnen anheim«).
   Vorsätze kann ich in unterschiedlicher Art und Weise fassen : Mit feierlichem Ernst (»jemandem Treue geloben««), als eine Selbstermutigung (»sich zu einer Entschuldigung ermannen«), als Verpflichtung (»sich anheischig machen, etwas zu tun«; in anheischig steckt heißen = befehlen), als vorbereitende Tat (»sich zu einer Reise rüsten«).
   Hinwendung ist eine Form der Nächstenliebe; sie muß manchmal zurückhaltend sein. Der Zuspruch ist diskreter als das Zureden, die Zwiesprache vertraulicher als das Gespräch, die Dankesschuld bedrängt mehr als eine fällige Anerkennung.
   Hilfe kann so ins Wort gesetzt werden, daß man merkt, wie engagiert der Helfer ist. Wer jemandem beispringt, kommt eilig zu Hilfe, wer eine Sache verbrieft, liefert eine schriftliche Garantie, wer etwas hegt, bringt seine eigene Sorge ein, wenn wir jemandem etwas angedeihen lassen, so wird die Freiwilligkeit der Hilfe betont.
   Genuß und Wohlbehagen können den Menschen ganz und gar erfüllen. Das wird deutlich, wenn man den gehobenen Wörtern normalsprachliche gegenüberstellt. Dafür einige Beispiele: Sich einem Hobby hingeben (ihm frönen), gute Musik genießen (sich daran erbauen) ; einen Braten aufessen (ihn verspeisen) ; ein erfrischender Trunk (erquickender Trunk).
   Erquickliches kann so formuliert werden, daß bestimmte Bedeutungsrichtungen damit untrennbar verbunden sind. Der Schlummer impliziert das Wohlbehagen, die gedeihliche Entwicklung eine Genugtuung, wer von einem Einfall erleuchtet wurde oder etwas zu eigen hat, signalisiert (unterschwellig) Dankbarkeit.
   Unverhoffte Möglichkeiten können so mitgeteilt werden, daß die gewählte Vokabel beim Gesprächspartner ein Staunen auslöst, so wenn wir sagen, daß sich eine Hoffnung regt, daß jemand einer Sache ansichtig wird, daß die Wache den Feind gewahrt.
   Geheimnisvolles kann durch gehobene Wörter verstärkt werden. Wenn ein Flüstern durch die Menge geht, so kann das Geflüsterte konkretisiert werden. Beim Raunen ist dies nicht der Fall. Schließlich hängt Raunen zusammen mit der (germanischen) Rune. Wenn etwas geheimnisumwittert ist, so kann man es nur instinktiv aufnehmen, also wittern. Die Wendung wird blaß, wenn es heißt, etwas sei von einem Geheimnis umgeben.
   Unangenehmes verschließt uns oft den Mund. Dem läßt sich abhelfen mit gehobenen Stilmitteln. Denn sie ermöglichen eine doppelte Distanz: Diese ergibt sich zum einen aus dem Abstand zwischen der gehobenen und der normalsprachlichen Stilebene, zum anderen aus einer sprachgeschichtlichen Entfernung. Viele gehobene Wörter sind zugleich veraltete Wörter. Dafür einige Beispiele aus dem Sinnbezirk
   Abwehr: Freche Worte kann man dem politischen Gegner heimgeigen. Doch diese Wortwahl ist Temperamentssache. Man kann Frechheiten auch (normalsprachlich) zurückweisen. Ein hoher Grad von Distanz wird erreicht, wenn man ein gehobenes Wort wählt, das zugleich veraltend ist: dem Gegner die Worte verweisen. Man kann sich dagegen auch verwahren; dann würde man ein Wort wählen, das (nach Duden) schon veraltet ist. Ich empfinde anders: Für mich ist »sich gegen etwas verwahren« lebendiger als »jemandem etwas verweisen«. Aber stilistische Urteile sind subjektiv. Es gibt natürlich unterschiedliche
   Intensitätsgrade der Abwehr: Jemandem abhold sein heißt, ihm keine Neigung entgegenbringen, während eine Entschiedenheit in der Ablehnung anders ausgedrückt wird, etwa durch »jemandem feind sein«. Es gibt bei der Abwehr auch verbale Puffer, vergleichbar dem Lateinischen »sit venia verbo« ( = man verzeihe dem Wort). Ich denke hier an den Einschub »mit Verlaub«; Beispiel: »Dies zu tun, lehne ich, mit Verlaub (gesagt), ab!« Dieser Puffer ist vielseitig verwendbar, nicht nur abwehrend. Schon Andreas Gryphius schrieb 1698: »Die Liliengasse, welch andere mit Verlaub aus Haß und Neid die Dreck-Gasse nennen.« Caspar Stieler erklärte im Jahre 1691 »mit Verlaub« als »tua pace dictum«.
   Pflichten sind oft lästig, auch das Sprechen darüber ist nicht leicht. Müssen wir jemanden an seine Pflicht erinnern, so können wir sagen, ihm obliege dieses oder jenes. Das Wort obliegen eignet sich auch dazu, eine Kompetenz zu wahren, die man als Pflicht ausgibt; Beispiel: »Die Die Verteilung der Arbeit obliegt mir. 1979 sagte Walter Scheel, daß er »unter den obwaltenden Mehrheitsverhältnissen« nicht ein zweites Mal für das Amt des Bundespräsidenten kandidiere. Salopp hätte dies geheißen: Zur Zeit habe ich keine Chance, diese Wahl zu gewinnen. Das Verb obwalten bezeichnet zwar keine Pflicht, wohl aber einen Zwang von außen.
   Ein Verzicht fällt leichter, wenn er durch ein gehobenes Wort gleichsam geadelt wird. Es gibt den freiwilligen Verzicht, die Enthaltung. »Sich der Stimme enthalten« - das ist normalsprachlich, aber »sich des Weines enthalten« - das ist gehoben, vergleichbar dem Wort entsagen, wie es Goethe gebraucht hat. Dies bedeutet, es wird freiwillig, aber schweren Herzens verzichtet. Wenn sich jemand eines Rechtes begibt, so schwingt darin die Bedeutung »Opfer« nicht mit. Denn es genügt schon ein Mangel an Umsicht, um sich einer Sache zu begeben, das heißt ja etwas freiwillig aus der Hand lassen. Beim unfreiwilligen Verzicht steht ein Handeln von außen im Vordergrund, so wenn ich sage, mir wird ein Recht verwehrt. Andere Wörter der gehobenen Sprache betonen, daß ein Verzicht erlitten wird, so darben und schmachten.
   Aufgabe und Verlust einer Sache können so ins Wort gesetzt werden, daß deutlich wird: Die Ursache kommt von außen, etwa wenn es heißt, jemand sei »seines Amtes enthoben worden«. Trennt er sich aber aus eigenem Entschluß davon, gleichsam in einem Akt der Selbstbefreiung, so »entledigt er sich des Amtes«.
   Widerwärtigkeiten bespricht man am besten mit Distanz. Das machen Wörter möglich, die schon Patina haben. Wiederum verbindet sich das Gehobene mit dem Veraltenden. Wir sprechen vom ruchlosen Mörder, das ist einer, der keine Skrupel kennt. Das Handeln gegen göttliches oder menschliches Gesetz nennen wir Frevel. Und eine Widerwärtigkeit ist ein Ungemach. Bestimmte Wendungen spielen beim Nennen von Widerwärtigkeiten eine besondere Rolle. Erinnern wir uns: Nach den ersten Anschuldigungen sagte Barschel, es sei alles erstunken und erlogen. In gehobener Sprache hätte dies geheißen: Es ist alles Lug und Trug. Wir sprechen von den Unbilden der Witterung, von einer befremdlichen Äußerung, von unschicklichem Benehmen, von pflichtwidrigem Handeln, oder wir sagen, etwas tue jemandem Abtrag.
   Zorn und Streit lassen sich mit gehobenem Vokabular in aller Heftigkeit ausdrücken, ohne daß man vulgär werden müßte. Wenn einer wütend explodiert, so zürnt er, oft mit der Folge, daß es zu einem schweren Zerwürfnis kommt, zu einer Entzweiung also. Das Wort ergrimmen (grimmen bedeutet eigentlich »mit den Zähnen knirschen«) sagt mehr als zornig werden. Und Widerpart ist distanzierter als Gegner. Eine feierlich-formelle Art macht das Reden über
   Reue und Sühne erst möglich. Wenn wir sagen, es gereute ihn, daß er sie so schlecht behandelt hatte, so ist das mehr als ein einfaches Bedauern, denn gereuen schließt die Bereitschaft zur Umkehr ein. Die Sühne bezeichnet heute das, was jemand auf sich nimmt, um ein begangenes Unrecht, eine Schuld abzubüßen. Sühne ist also eine Wiedergutmachung durch ausgleichende Gerechtigkeit auf sittlicher Grundlage. Wir brauchen das Wort heute noch, oder wie sonst sollten wir die »Aktion Sühnezeichen« nennen? Im althochdeutschen Muspilli steht das Wort suona für »Gericht«.
   Wird ein begangenes Unrecht bestraft, so sagen wir, es werde geahndet. Ursprünglich meinte das Wort nur »rächen, vorwerfen«. Seit dem 17. Jahrhundert hat ahnden (gegenüber rächen und strafen) einen altertümlich-feierlichen Klang und wird - so der Trübner - auf die gehobene Sprache zurückgedrängt. Dazu gibt es seit einiger Zeit eine Gegenbewegung, nämlich die Verwendung von ahnden in Sportberichten; Beispiel: »Das Foul wurde mit zwei Strafminuten geahndet.«
   Verhüllungen sind erforderlich bei Tabuthemen. Es verschafft Erleichterung, wenn sie auf der gehobenen Stilebene verhandelt werden. Dies betrifft beispielsweise die Sexualität und den Tod. Wer einer Frau beiwohnt, ist im intimen Sinne ihr Mann; wenn eine Frau mit einem Mann intim wird, so gibt sie sich ihm hin. Der Tod wird am liebsten verdrängt, auch verbal. Man setzt dafür ein modifiziertes Leben: das frühe Ableben des Vaters; man sucht Vergleiche: der liebe Entschlafene. Einige dieser Verhüllungen sind inzwischen veraltet, so der Verblichene und das Wort erbleichen im Sinne von »sterben«; noch Hagedorn (1708 bis 1754) konnte schreiben, er »will nunmehr durch Gift erbleichen«.
   Verstärken und steuern kann man die Information auch mit Hilfe gehobener Wörter, beispielsweise mit Adverbien: Das ist gewißlich wahr; sein Brief ist gleichsam ein Aufruf; künftighin wird alles besser werden; sie war heute nicht minder freundlich zu ihm (minder ist der alte Komparativ zu weniger). Es gibt auch Präpositionen mit stilistischem Signalcharakter. Die Wendung wider Erwarten ist nullexpressiv, die Zeitungsüberschrift »Wider den Hunger in der dritten Welt« dagegen stimuliert. Dieses wider war früher viel häufiger als heutzutage, so lesen wir in Lessings Emilia Galotti: »Das ist wider die Abrede.« Das regionale Fernsehprogramm von Radio Bremen (oft gelobt) heißt »Buten und binnen«, das entspricht dem Hochdeutschen »Draußen und drinnen«. Aber als Verhältniswort lebt ja binnen auch im Hochdeutschen, wir empfinden es als gehoben, wenn bei Zeitangaben der Genitiv herangezogen wird: »binnen eines Jahres«. - Mit diesem Beispiel müßten wir den Wortschatz verlassen und zeigen, wie das Merkmal »gehoben« im Satzbau zustande kommt. Doch das soll einer besonderen Untersuchung vorbehalten bleiben.

Die unerträglichste Beschränkung
Wollten wir heute einen Text schreiben, der nur aus gehobenen Vokabeln besteht, so würden wir uns lächerlich machen. Dies ist aber kein Grund dafür, auf das Gehobene ganz zu verzichten. Vielmehr sollten wir es für einen lebendigen Ausdruck nutzen. Aber heute werden die Stilmittel oberhalb des Bildungssprachlichen allzuoft vernachlässigt, weil wir uns kaum noch die Zeit nehmen, ältere Literatur auch zum Vergnügen zu lesen, weil wir die Schriften der Gegenwart überschätzen, weil wir die Mühe scheuen, an unseren eigenen Texten zu feilen. Kaufen wir die Zeit aus und pflücken wir den Tag, wenn wir im Gegenwärtigen verharren und darüber das Historische vernachlässigen? Eine Antwort schrieb uns der wohl berühmteste Germanist (in seiner selbstgewählten Orthographie): »wollte man dem sprachvermögen sein recht nehmen, zurück zu greifen, und nach bedeutsamen, durch ihr alterthum feierlich gewordnen wörtern zu langen, so wäre das die unerträglichste beschränkung. eine sprache, die auszer ihrem baren vorrat, der in umlauf ist, keine sparpfennige und seltne münzen aufzuweisen hätte, wäre armgeschaffen; diese schätze hervorzuziehen ist das amt des wörterbuchs. » So Jacob Grimm 1854 im Vorwort zum Deutschen Wörterbuch (Sp. XIX). Hinzuzufügen ist: Der Sprachpfleger steht in der nämlichen Pflicht. Denn ein differenziertes Bild von der deutschen Sprache kann sich nur machen, wer auch das gehobene Sprachgut kennt. Es gehört zum Bild, zum Gesicht unserer Sprache. Und es käme tatsächlich zu einem Verflachen ihrer Züge, zu einem Gesichtsverlust, wenn wir auf Wörter wie Angesicht, ja auf die ganze gehobene Stilschicht auf Dauer verzichten wollten.
   Als Sprachhistoriker muß ich mit Nachdruck betonen: Unsere Sprache ist nicht in der Gefahr zu verfallen. Ich muß aber energisch dazu mahnen, ihre Vielfalt auch wirken zu lassen, ihren Ausdrucksreichtum, ja ihre Schönheit. Denn der Besitz einer solchen Sprache, der verpflichtet.

Von Uwe Förster gewidmet »meiner lieben Frau († 9. 1. 1991)«

Vortrag, gehalten in den Zweigvereinen der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden (30. 5. 1989), Bonn (8. 11. 1989), Münster (2. 5. 1990), Frankfurt am Main (7. 5. 1990) und Kassel (19. 6. 1990). Ein gekürzter Vorabdruck ist unter dem Titel »Unsere Sprache verliert das Antlitz. Plädoyer für das gehobene Wortgut« am 20. 9. 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen (S. 8). Mit dieser Fassung des Vortrags hatte Dr. Uwe Förster, der Leiter des Sprachberatungsdienstes der GfdS, am 3. 9. 1990 am 3. 9. 1990 die Pädagogische Woche des Erzbistums Köln eröffnet. (Anm. der Red. des Sprachdienstes)
   Aus: Der Sprachdienst, Jg. XXXIV (1990), H. 6 Seite 161)

Dr. phil. Uwe Förster wurde am 29. September 1935 in Dresden geboren und starb am 18. August 2002 in Siegburg. Nach seinem Studium an der Freien Universität in Berlin war der Germanist dreiunddreißig Jahre lang, von 1967 bis 2000, bei der Gesellschaft für deutsche Sprache tätig und leitete fast so lange deren Sprachberatung. Trotz einer Behinderung beim Sprechen hielt er über 250 Vorträge. Seine Liebe zur Sprache und seine persönliche Liebenswürdigkeit bleiben mir wie bei keinem anderen in Erinnerung.

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