Deutscher Kitsch:
Im Kopfe eine Hiebwunde, im Herzen Mimili

Vor wenigen Tagen erhielt ich einen Brief, vom alten Herrn Nachbarn.
   Ich ließ ihn mehrere Stunden uneröffnet liegen, denn es fehlte mir an Herz, ihn zu lesen. Ich wußte ja schon seinen Inhalt.
Mimilis letzte Stunden, den Schmerz des gebeugten Vaters, den Kummer des alten Freundes und seiner Gattin.
   Zürnend mit dem Geschick, das ein solches Wesen, wie Mimili war, in der Blüte des Lebens, abrufen, und einen so liebenswürdigen Mann, als meinen Freund Wilhelm, in der Fülle seiner Kraft, des jammervollsten Todes sterben lassen konnte, erbrach ich endlich das Siegel und las :
   »Ihr werdet mich unter den Engeln im Himmel suchen, lieber Herr und Freund, aber zur Zeit bin ich noch in meiner herrlichen Schweiz, doch seliger, als alle Engel im ganzen Himmelreich, denn Wilhelm lebt in meinen Armen.«
   Ich weiß nicht, wie es gekommen war; aber ich hatte Wasser in den Augen, als ich den Brief des Herrn Nachbars eröffnete; darum schwammen mir jetzt alle Buchstaben vor dem Gesichte, so daß ich mir selbst nicht traute, da ich diese Zeilen erblickte, und unten am Ende des bogenlangen Briefes, ganz deutlich den Namen Mimili.
   Ich wischte mir, vor Freude zitternd, die Tränen aus dem Gesicht, ich durchflog mit trunkenem Blick den Brief - es war, es blieb richtig! Mimili lebte und Wilhelm. Beide frisch und gesund.
   Wilhelms Geschichte war ganz kuurz und erbaulich.
   Was nach dem Augenblicke seiner Verwundung mit ihm vorgegangen war, wußte er nicht; er hatte, halb verblutet, besinnungslos unter seinem Rappen gelegen. Gegen Mitternacht war er endlich wieder zu sich gekommen. Seine erste Frage an die ihm zunächst liegenden Verwundeten war gewesen, ob der Feind geschlagen? und, als hierauf ein beseligendes Ja erfolgte, wohin er geflüchtet? »Auf Paris zu« hatte ein Unglücklicher ohne Beine geantwortet: und jetzt erst hatte er, dem Ewigen dankbar, bemerkt, daß ihm beide Beine noch waren; vor ihm Paris, hinter ihm Deutschland und die Lazarette; links die Schweiz. Die rechte Hand vom Sturz gelähmt, in der Brust eine Kugel, im Kopfe eine Hiebwunde, im Herzen Mimili.
   Er hatte sich links gewandt, um sich von Mimili pflegen zu lassen. Drei Meilen war er in der Nacht gewandert, am Morgen war er vor einem Städtchen kraftlos umgesunken. Ein Müller war des Weges gefahren gekommen. Wilhelm hatte das Letzte seiner Besinnung zusammengerafft, um dem Manne sein ganzes Gold zu bieten, wenn er ihn nach Unterseen im Kanton Bern schaffen wolle; von dort aus hatte er sich auf ein Saumroß laden und auf Mimilis Alpe schaffen lassen wollen. Der Müller hatte nach einigem Zögern und Rechnen Ja gesagt, und dem erschöpften Wilhelm waren die Augenlider zugefallen.
   Von da ab, fährt Mimili in ihrem Brief fort, weiß Wilhelm nichts, als daß er unendlich lange auf einem mit Stroh ausgefütterten Wagen gefahren, daß er von fremden Gesichtern bedauert und von unbarmherzigen Wundärzten verbunden worden ist. Wahrscheinlich hat er in einem sehr starken Wundfieber fortwährend gelegen, oder hat ihn der Blutverlust so geschwächt, oder hat die Hiebwunde so nachteilig gewirkt; kurz er hat von allem, was mit ihm vorgefallen, keinen klaren Begriff, nur so viel weiß er, daß, als er dann endlich wieder ein wenig mehr zu sich kam, und sich in einem Bette liegend sah, er nicht im Arm seines treuen Maidli lag, sondern in einem Bette zu Freiburg in Breisgau; das Bette aber gehörte einem wackern christlichen Manne, bei dem ihn der Müller abgeladen hatte, weil Wilhelm ohne Todesgefahr nicht weiter gefahren werden konnte. Der Freiburger hat mit Frau und
   Kind an Wilhelm fromm getan, wie der barmherzige Samariter, und Wilhelm ist nach langem Leiden gesund geworden und ist förder gezogen gen Thun, von dannen er gekommen ist über den See zu seinem Maidli.

In sich ungekürzt aus: Heinrich Clauren, Mimili, 1816, Berlin o.J., S.159-163, entnommen dem Band: Walter Killy: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1962, Kleine Vandenhoeck-Reihe125-127, 167 S. Brosch. DM 10 ,-

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