Linguistik, Haarewaschen und Hilde Domin

Morgens dusche ich. ’s ist ja nicht wie in meiner Kindheit. Damals hießen Duschen noch Brausen und hingen an Mischbatterien in die Wanne hinein, die man wöchentlich einmal einließ. Damals war im Bad Kernseife angesagt, auch für’s Haar, das damals immer noch Haare hieß.

Also ich dusch’ mich, alle Tage. Mit einem Shampoo (vormals »Haarwaschmittel«), ein »Energie-Shampoo«, wo »Innovation« draufsteht und »Vitalität & Energie« drin sind. Aha. Das sagt mein Chef auch immer. Energisch nehme ich mir den nächsten Sprachtip vor, beim Einseifen. Beim Spülen guck’ ich hinten drauf: »Timotei« steht da, »Schönheit und Poesie der Natur«. Poesie? Und dann das Gedicht:

Linguistik

Du mußt mit dem Obstbaum reden.
Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütensprache,
rosa und weiße Worte,
die der Wind lautlos davonträgt.
Vertraue dich dem Obstbaum an
wenn dir ein Unrecht geschieht.
Lerne zu schweigen
in der rosa
und weißen Sprache.

Hilde Domin
©1987, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main

P.S. Inzwischen gibt’s weitere Domin-Gedichte auf Elida-Fabergés »Timotei«-Glanz-Shampoo, etwa »Windgeschenke« (Elida: 01805-258262, in Österreich 0660-8526).
Schön auch aus zum Beispiel www.onlinekunst.de/herbstlyrik/Eingang.htm www.onlinekunst.de/herbstlyrik/Knospt.htm.

Der Tip mit dem Haar
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