Die österreichische Seele

Die »Frankfurter Zeitung« hatte in ihrer Weihnachtsnummer 1926 den Versuch unternommen, Wesen und Eigenart einer Reihe von Ländern und Völkern nicht von Kultur- oder Sozialpolitikern, sondern von repräsentativen Schriftstellern schildern zu lassen.
   Für Österreich war
Egon Friedell zur Mitarbeit aufgefordert worden. Er hat sich dieser Aufgabe durch folgende Korrespondenz mit Hanns Sassmann über den verlangten Beitrag entledigt.

Herrn Dr. Egon Friedell, Wien.
   Wir wären sehr erfreut, wenn Sie sich an unserer Weihnachtsumfrage, über deren Thema Sie aus der Beilage das Nähere ersehen, beteiligen wollten. Wir sind überzeugt, daß Ihr Beitrag eine Perle werden wird. Gewiß werden Sie das Bedürfnis fühlen, sich über den Gegenstand möglichst umfassend und eingehend zu äußern; trotzdem möchten wir Sie bitten, Ihre Darstellung mit Rücksicht auf die zahlreichen anderen Zusendungen möglichst zu komprimieren.
   Hochachtungsvoll
Redaktion der »Frankfurter Zeitung«
    
   Sehr geehrter Herr Friedell!
   Wir erhielten ein Couplet »In der Welt geht’s drüber, drunter, aber Österreich geht net unter« aus der Feder des Salonhumoristen Eugen Friedel, dem die Post irrtümlicherweise unsere Einladung zugestellt hat. Wir schicken Ihnen anbei einen Durchschlag unseres Briefes und erwarten Ihr Manuskript in spätestens acht Wochen, das ist bis zum 15. Dezember.
   »Frankfurter Zeitung«
    
   Herrn Schriftsteller Hanns Sassmann, Wien.
   Lieber Freund,
   es wird Dich gewiß freuen zu hören, daß mich die »Frankfurter Zeitung« zu einem Weihnachtsbeitrag aufgefordert hat. Noch selten hat mich eine Arbeit so interessiert wie diese. Endlich erinnert man sich an das Land Walthers von der Vogelweide! Das Ausland braucht uns halt doch! Und Österreich wird ihm zeigen, was es kann. Der Beitrag muß eine Perle werden. Du wirst daher einsehen, wie wichtig es ist, daß Du Dich sofort an die Arbeit machst. Aber bitte nicht zu kurz, sonst heißt es gleich wieder, daß wir nur Plaudereien schreiben. Ich erwarte Dein Manuskript in spätestens acht Tagen.
   Dein Egon Friedell
   P.S. Gib acht, daß nichts vorkommt, was bei Bahr und Hofmannsthal Anstoß erregen könnte. Das ist das Wichtigste.
    
   Lieber Friedell,
   ich bin sehr erfreut und geschmeichelt, daß Du an mich gedacht hast. Auch mich hat noch selten eine Arbeit so interessiert wie diese. Nur kannst Du nicht verlangen, daß ich Dir meine wichtigsten Überzeugungen zum Opfer bringe. Warum soll man Bahr und Hofmannsthal nicht giften? Gerade bei der Behandlung eines so ernsten Gegenstandes, wo noch dazu die ganze Welt auf uns blickt, dürfen keine persönlichen Rücksichten mitsprechen. Das wäre österreichisch.
   Das Manuskript erhältst Du binnen drei Tagen. Um welches Thema handelt es sich denn überhaupt?
   Dein Hanns Sassmann
    
   Lieber Sassmann,
   ich habe es kommen sehen, daß ich, sowie ich mich mit Dir einlasse, sofort Scherereien haben werde. Ich habe natürlich keine Zeit gehabt, den Brief so genau zu studieren, weil ich rasch ins Theater mußte, um ihn dort herumzuzeigen, und kann ihn jetzt absolut nicht mehr finden. Möglicherweise habe ich ihn im Café Pochaska auf dem Stammtisch liegen lassen. Im Café Grillhuber habe ich ihn bestimmt noch gehabt. Es kann auch sein, daß mir ihn in der City-Bar jemand gestohlen hat, um sich damit patzig zu machen. Ich ermächtige Dich doch, bei der »Frankfurter Zeitung« anzufragen, worum es sich handelt.
   Dein Friedell
    
   Lieber Friedell,
   ich tue doch gewiß alles, was nur menschenmöglich ist, aber das kannst Du nicht von mir verlangen. Ich kann doch nicht an eine Zeitung schreiben, von der ich kein einziges Redaktionsmitglied persönlich kenne. Ich weiß auch gar nicht, wie man eine solche reichsdeutsche Redaktion anredet. Zum mindesten müßtest Du mir also das Konzept des Briefes aufsetzen.
   Dein Sassmann
   Gestern im »Schriftstellerklub« sind alle zersprungen, weil Du mich und keinen von ihnen aufgefordert hast.
    
   Lieber Sassmann,
   zuerst hast Du die Sache mit Begeisterung übernommen, und jetzt soll ich alles für Dich machen. Große Reden führen und dann nichts leisten: das ist echt österreichisch.
   Dein Friedell
    
   Lieber Sassmann,
   habe soeben vom Zahlkellner im Café Demimonde erfahren, daß es sich um einen Artikel über Österreich handelt. Jetzt hast Du also keine Ausrede mehr.
   Dein Friedell
    
   Lieber Friedell,
   über Österreich zu schreiben, ist schwer. Was wird das Ausland dazu sagen? Sassmann
    
   Hochverehrter Meister!
   Sehr geschätzter Herr Sassmann!
   In meinem Restaurant habe ich erfahren, daß Sie der Hauptmitarbeiter der »Frankfurter Zeitung« sind. Schon lange war es mein Wunsch, an diesem hervorragenden Organ ebenfalls mitarbeiten zu dürfen. Es wird ihnen ein Leichtes sein, durch ihre Beziehungen dies zu vermitteln. Ich habe mich zwar bis jetzt noch nicht schriftstellerisch versucht, bin aber ein langjähriger persönlicher Bekannter von Franz Werfel. Sollte ihnen eine mündliche Aussprache erwünscht sein, so finden Sie mich täglich von zehn bis eins und drei bis sechs im Café Pyramide.
   In aufrichtiger Bewunderung
Franz Zehntbauer
städtischer Marktkommissär
    
   Sehr geehrter Herr Friedell,
   wir vermissen Ihren Beitrag. Wir rechnen um so gewisser auf sofortige Einsendung des Manuskripts, als es uns so kurz vor Weihnachten nicht mehr möglich wäre, für Sie einen Remplaçanten zu finden.
   Ergebenst »Frankfurter Zeitung«
    
   Lieber Sassmann,
   Weihnachten steht vor der Tür, und Du hast mir noch immer nicht die englische Seife für Lina besorgt. Echt österreichisch!
   Dein Friedell
    
   Dringendes Telegramm an Egon Friedell.
   Rasute blifta settmil hapta hapta ½.
   »Trankfurter Leitung«
   (Verstümmelter Text des Telegramms.)
    
   Lieber Sassmann,
   zu meiner Bestürzung erfahre ich im Café Eden, daß Du den Beitrag für die »Frankfurter Zeitung« richtig verschlampt hast. Damit hast Du mir ungemein geschadet; denn das hätte für mich der Anfang einer dauernden Mitarbeit werden können, und außerdem werden sie mich jetzt bei der nächsten Rundfrage möglicherweise übergehen. Ganz abgesehen vom Prestige beim Ausland. Das alles verdanke ich Dir!
   Friedell
    
   Lieber Friedell,
   ich weiß nicht, was Du noch haben willst. Erst vorige Woche war ich in drei Gesellschaften, die bisher noch nie das geringste von Dir gehört hatten und sich jetzt um mich gerissen haben, bloß weil ich mit Dir bekannt bin. Überall werde ich vorgestellt als »der Freund des berühmten Friedell, der die Frankfurter Zeitung hat aufsitzen lassen«. Du bist die populärste Persönlichkeit von Wien. Und das verdankst Du mir. Du siehst also, daß ich doch nicht so »unzuverlässig« bin, wie Du immer behauptest.
   Sassmann
    
   Lieber Sassmann,
   in Österreich wird man eben nur zum großen Mann, wenn man etwas auffällig nicht tut. Kaiser Josef hat unter größtem Aufsehen keine Reformen durchgeführt, Laudon hat unter allgemeiner Aufmerksamkeit Friedrich den Großen nicht besiegt und Lueger hat unter ungeheurem Zulauf nichts für Wien geleistet. Für die »Frankfurter Zeitung« haben schon viele nicht geschrieben, aber keiner ist dadurch der Mittelpunkt Wiens geworden. Weil die anderen eben alle kein Talent haben. Zumindest kein österreichisches Talent.
   Friedell
    
   Von der Steuerbehörde für den 18., bzw. 19. Bezirk, Wien, Niederösterreich.
   Herrn Dr. Egon Friedell, Chefredakteur der »Frankfurter Zeitung«.
   Auf Grund der amtlichen Erhebungen werden Sie auf Grund Ihrer Lohngenüsse beziehungsweise dauernden Emolumente aus Ihrer Tätigkeit als ausschließlicher Verfasser der periodischen Druckschrift »Frankfurter Zeitung« für die Jahre 1926 bis 1929 in die Gruppe Ia der allgemeinen Erwerbsteuer, resp. Ib der temporären Einkommensteuer eingereiht. Die Höhe der vorauszuzahlenden Nachtragssteuer wird aus der Einkommenstufe für das zweite Semester der unmittelbar dem dazwischenliegenden Jahre des vorhergehenden dritten Halbquartales als zweite Rate der Zuwachsstaffel vorgeschriebenen Katasterumlage, jedoch vermehrt um den mit der Steuernovelle vom 3. Jänner 1921 für die nicht in die für die unter die Befreiung von der direkten Einkommensmehrertragssteuer fallenden vorgesehenen kommunalen Erwerbszuschlag, jedoch abzüglich der bereits für die der Versteuerungsperiode vorausgegangenen letzten drei – soweit sie noch in diese Periode fallen – schuldigen Vermehrungssteuerquoten bis spätestens zum als Stichtag geltenden 1. Dezember 1926 eingezahlten Beträge errechnet.

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Ob das nun tatsächlich zu Weihnachten 1926 in der »Frankfurter Zeitung« erschienen ist, weiß ich nicht, jedenfalls ist es am 21. Dezember 2006 gekommen: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, Seite 38, letzte Seite des Feuilletons.

Das Stück gibt’s gelesen von Fritz Muliar hier bei Soforthoeren.De, 2 Euro, 9 Minuten, MP3, 6,5 MByte (Zitatauszug als Hörmuster).

Fritz@Joern.De www.Joern.De ©Fritz Jörn MIM, MMVI
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