Santiago de Compostela
1. Tag, Donnerstag, 11. 11. 1999, Bonn-Blois
Bonn
Die Pilgerreise, die eigentlich keine ist, weil sie ganz mit
dem Auto geht, diese trotzdem langersehnte Reise ans westliche
Ende Europas sollte heute fromm beginnen. Für mich ist Santiago
de Compostela ein Traum habe ich doch Santiago im Jahr
1974 nicht erreicht, weil es an der Küste einfach zu viele
Kurven dorthin waren. Nun, im Mai 1975 kam mein Sohn Nils zur
Welt, auch eine schöne Erinnerung an Nordspanien ...
Diesmal aber, allein unterwegs, will ich
Santiago erreichen. Ich bin sozusagen »between jobs«, das
erleichtert die Terminlage, und ich bin seit zwei Jahren neu
verheiratet, das bringt neue Toleranz für solche
Privatvergnügungen.
Ich hatte mir die Frühmesse in der Bonner
Elisabethkirche um fünf vor acht vorgenommen wirklich
früh ist das ja nicht –, fand aber die Kirche verschlossen. Das
kommt davon, dass man nicht zur Vorbereitung übt, dass man nicht
weiß, wies geht. Also bekam Gisela stattdessen noch einen
Abschiedskuss mehr.
Der Vormittag ging noch drauf mit Büroarbeit
und dem zeitaufreibenden Versuch, Shell-Tankstellen auf dem Weg
aus dem Internet zu ziehen, wegen meiner Shell-Plastikkarte.
Mittags aber dann los!
Der Tag, neun Grad etwa, ein typischer
Spätherbsttag. Der Regen der Nacht weicht aromatischer
Morgenluft. Die Sonne müht sich, schaffts aber nur morgens
und abends was meine Theorie von der »flachen Erde«
bestärkt. Sonst liegen immer Wolken darüber.
Ja, und ich hatte am Mittwoch, dem Vortag,
noch einen Aldi-PC gekauft; gewiss keine kontemplative
Vorbereitung auf eine Pilgerreise, sondern vergebliche,
frustrierende nächtliche Versuche, Daten zu kopieren.
Das liegt jetzt hinter mir. Ich sitze in Blois
an der Loire, im doppeltgesternten Spitzenhotel »Le Monarque«
für 230 Franken (67 Mark), leicht berauscht vom halben Liter
Pinot Noir, unter dem es hier keinen Roten gibt. Das Essen war
klein und fein, vom pochierten Ei auf Toast über das seignante
Steak bis zu den Käsemüsterchen.
Mit Auto-Pilotin
Zurück aber zur Fahrt. Ich hatte als alter
Techniktester ja noch die Autopilot-CD von Frankreich in den
Leser im Kofferraum geschoben, was sich aber als nutzlos
herausstellte. (Die Scheibe lässt sich nur bei eingeschalteter
Zündung wechseln. Und die Frau bleibt danach eine viertel Stunde
lang stumm, bis die [alte] Sprache neu geladen ist. Nur Daimler
weiß, warum genaugenommen Blaupunkt.) In der Anzeige
stehen Luftkilometer. Für Flieger mag diese präzise Angabe der
Entfernung in Luftlinie interessant sein, 853, 852, 851 ...,
laufend und auf den Kilometer genau, aber Autofahrern, jedenfalls
Weitreisenden, hilft sie nichts. Bordeaux hatte es dreimal
gegeben eine gewohnte Zwickmühle bei Navigationssystemen
, und ich hatte mutig und geographisch ungebildet »Gironde«
als nähere Angabe gewählt. Sofort sah ich, wie weit ich hätte
fliegen müssen. Wieso muss man Landschaftsnamen kennen, wenn man
sich zur Hilfe Satellitennavigation kauft? Um nicht wieder drauf
zu kommen: In Deutschland und Belgien zeigte die
Franzosen-Scheibe »nicht kartiert« an (»off road«), in
Frankreich »können keine Fahrempfehlungen gegeben werden«,
nirgends! (Kryptisch: »no rte«, was wohl »no route« heißen
mag). Nur einmal, ganz kurz in Paris, da hat sie mich den
Stadtring wieder zurück fahren lassen Richtung Bonn, bis
mirs dann zu dumm wurde und ich nach Fragen an einer
Tankstelle reuig von Hand umkehrte. (Am Rückweg wars
besser, siehe dort.)
Also: Ich kam in Bonn um zehn nach zwölf erst
los. Schöner Herbst, bunte Blätter, dampfende Kraftwerke. Die
einzige Kasteiung, die ich mir leiste, ist: kein Radio auf der
Fahrt! Auf dem Weg nach Aachen Rüben-Lkws, ebenso in Belgien und
Frankreich. Landwirtschaft eint, obwohl nur in Frankreich auf
riesigen Flächen betrieben.
Drei Länder
Ausnahmsweise verfahre ich mich vor Aachen
nicht. Im Autobahnkreuz warnen ein Schild und ein Blitzkasten
davor, Müll im Kurvenschwung des Kleeblattes wild zu entsorgen.
Dann auf der A44 ein letztes Mal 230 km/h. Eine Stunde nach
Abfahrt, zehn nach eins, an der Grenze. Nur das
D1-Netz begleitet mich noch lange nach Belgien
hinein.
Auch dort später Herbst, Modell
Indianersommer. Ja, ich müsste die Namen der Sträucher und
Bäume kennen, um das Farbenspiel zu beschreiben: Die hellgrauen,
fast weißen Fruchtgespinste der »Judenstricke«, die kleinen,
hellgelben Birkenblätter, die dunkelroten Espen aber da
bin ich mir schon unsicher , dazu kahle, rote Sträucher wie
dünne Korallen, dahinter die abgeernteten Felder, viele schon
fertig für den Winter, und die malerisch platzierten Kühe,
schwarzweiß. Niesanfälle bringen mich wieder in die
Wirklichkeit zurück wohl, weil mir ein bisschen Sonne in
die Augen scheint.
In Belgien und Frankreich absolut leere
Straßen (sogar Lastwagen fehlen fast ganz), die die
Geschwindigkeitsbegrenzungen noch unsinniger erscheinen lassen,
technisch so sinnvoll wie lauwarmes Duschen, reine Schikane und
ähnlich wie die Sommerzeitumstellung politisch
unrückgängigmachbar. (Gisela meinte später, in Frankreich sei
Feiertag gewesen.)
Übrigens werden in Deutschland automatisch
erzeugte Geschwindigkeitsbeschränkungen und solche in kleineren
Baustellen erst gar nicht wieder formal aufgehoben. Hält sich eh
keiner dran, oder: auf dass die Kasse klingelt.
Fahrvermögensabgabe.
Um viertel vor drei Überfahrt von Belgien
(max. 120 km/h) nach Frankreich (130), mein
Kilometerstand 101.180. Bunte Friedhöfe wie der Herbst,
Wohnwagensiedlungen und Autoschrottplätze, auch die bunt, vor
den Orten, ein paar Fabrikruinen. Das Stahlwerk bei Valenciennes
wieder mit glühendem Eisen sichtbar in der großen Halle, weit
weg ein Abraumberg. Wassertürme, dank Mobilfunk zu neuen Ehren
gelangt. Mit 150 durch Frankreich, Festgas, weites, plattes Land,
spitze Kirchtürme, zuweilen wie Spitzenklöppeleien
durchbrochen.
In der Picardie, »dem Staat
der Somme« (ich sollte doch Landschaftsnamen kennen!) überholt
mich rechts ein rasender TGV, wie ein gelb-schwarzer Blitz auf
Schienen. Km 101.263, zwanzig nach drei, ich kreuze die Somme.
Reiner, gelber Sandboden.
Langsam wirds wieder Abend, die Sonne
kommt schon deshalb wieder siehe meine
Platte-Welt-Theorie. Romantik-Wolken. Besonders über Paris.
»Périphérie fluide« der Verkehr um Paris läuft besser
als am Kölner Ring! Zwanzig nach fünf, Porte d
Ivry. Meine Shell-Karte klappt sogar für die Maut.
Zwanzig vor sechs, 101.446 und schon hinter Paris. Dunkel. Bis
Bordeaux wären es noch 550 km. Um halb acht mache ich in Blois
Quartier.
P.S. Aus einer elftenmorgendlichen E-Mail:
Lieber Helmut,
lieber Herr Emmelmann,
um gleich Missverständnisse nicht aufkommen
zu lassen: Meine Reise nach Santiago mach ich mit dem
altbekannten Auto. Als Pilgerreise gilt das gewiss nicht. Zum
Wandern wäre mir einfach die Zeit zu knapp. Also vielen Dank
für die gutgemeinten fußtechnischen Ratschläge!
Gestern hab ich mir noch für 1999 Mark
in bar allein das viele Flüssige zu beschaffen, war
umständlich den neuesten Aldi-Rechner gekauft. Mental
keine gute Einstimmung für eine besinnliche Reise, denn
natürlich hab ich das Ding gleich gestartet. usw. ...
Soweit der erste Tag. Zehn. Müde. Zu Bett!
In der Nacht noch mindestens zwei Stunden lang
versucht, die Infrarotverbindung zum Handy zum Laufen zu
bekommen, um E-Mails zu verschicken. Erfolglos. Ein Ärgernis,
diese Technik! (Es lag vermutlich am Handy.) Dann noch etwas
»Technik und Motor« und in »One Thousand White Women« von Jim
Fergus gelesen. Ein gutes Buch, Erlebnisse weißer Frauen vor
über hundert Jahren bei den Indianern.
Statistik: 710 km (bis Stand 101598), ca. 8 St. Hotel mit
Abendessen und Frühstück 461 fFr, Hôtel Restaurant Le Monarque
** NN, 61, rue Porte-Chartraine, F-41000 Blois, Tel. 54780235,
Fax 54748276
2. Tag, Freitag, 12. 11. 1999, Blois-Bilbao
Morgens um halb neun ab von Blois, 4,5 Grad,
bewölkt. Die Schule hat begonnen, Mütter führen ihre
Sprösslinge über die Straße. Meine Travel-Pilot-Frau erwacht
plötzlich kurz vor der Autobahn, weiß sogar, dass die Strecke
nach Bayonne »gebührenpflichtige Elemente« enthält, irrt sich
ein wenig beim letzten Kreisverkehr, führt mich aber sonst ganz
brav. Na ja, in Bordeaux vertut sie sich wieder ein wenig bei der
Umfahrung. Viele Nationalstraßen sind wohl inzwischen
Autobahnen, die Auf- und Abfahrten verändert.
Mit 150 auf dem Tempomaten »on the road
again«, wenig Verkehr, vereinzelte Lastwagen. Ein paar Franzosen
überholen mit 170, 180, die meisten aber fahren langsamer als
ich.
Weitläufiger, für mich sehr »südlicher«
Himmel, mit einem Zelt von Wolken. Die Loire-Schlösser bewundere
ich auf Plakaten vor den jeweiligen Ausfahrten. Sie sind so
berühmt, dass gar keine Namen dabei stehen, erst viel weiter im
Süden wird beschrieben. Binsen, fast gelb noch, und Pinien neben
der Straße, kalifornisch. 9 Uhr Sonne, 52 km. Die Weinberge der Touraine,
braun. 9.10 über die Loire bei Tours.
Weite Laubwälder, kanadisch. Hochebene, nur überwacht von
diesen Obelisken der Neuzeit, den Funktürmen.
Warum kann Gila mich nicht im Internet
verfolgen? Die Mobilfunkbetreiber müssten nur die
Zelleninformation zur Verfügung stellen, so wie sies für
die Polizei und (D1) für Tegaron tun. Oder das aber
später!
Zehn Uhr über die Vonne.
Wonnig, gell! Alte Natursteinmauern um Landsitze und Friedhöfe.
Mein Fahren ohne Radio ist fast wir früher auf dem Rad:
Unterhaltung mit mir selbst.
10.15 Niort, 216 km. 10.30,
270 km, Cognac, die ersten Zypressen, 7 Grad.
10.40 Charente. Viel, viel
Landschaft. Ich denke an meinen gefallenen Vater, der im Krieg in
Frankreich war. Ich sollte meine Mutter über ihn ausfragen. Wie
kann man gegen so ein Land Krieg führen? Durchrennen,
durchfahren, ja, aber doch nicht besitzen, besetzen!
Regen vor Bordeaux, große
Brücke über die Dordogne, 392 km. Dann über
die Garonne, genauso braun und fast so riesig.
Auf den brettelebenen Maisfeldern riesige, oft kilometerlange
spinnenartige Dinosaurierskelette auf Gummirädern zur
Bewässerung. Pinienwälder, knapp bewachsene Dünen, Moor. Für
mich Regen.
Ab Bayonne ausgebaute
Nationalstraße, eine Autobahn im DDR-Stil, mit freien Ab- und
Zufahrten, jetzt viele Lkws. 500 km, 12.30 Uhr.
Vor St. Jean de Luz im
Kofferraum die Autopilot-CD gewechselt. Diesmal behält der die
Sprache, findet »Getxo«, einen Stadtteil von Bilbao,
obwohls nicht einmal im 1:300.000er-Atlas steht. Letztes
Shell-Tanken in St. Jean de Luz Nord. Eine extra Umkehre auf der
autobahnparallelen Nationale 10 hilft Verfahrenen wie mir. 7
Grad, es wird wärmer.
14 Uhr, Übergang nach Spanien (max. 120 km/h)
nach 630 km Fahrt (102.228). Dreihundert Meter hinter der Grenze
ist meine Spanienfrau von der Navigation schon wieder im Bilde.
Sofort Gebirgslandschaft, kleine Gehöfte, abgeholzte Hänge mit
herbstlichem Farnbezug, in den Buchten Wohnblocks, fast
Hochhäuser, Proletarier-Style.
Um halb drei über den Fluss Oria
und zum ersten Mal das Meer gesehen! Die Autobahn ist eine
richtige Corniche, eingeschnitten in die steilen Hügel, mit
Tunnels, Brücken, einer Kurve nach der anderen, für mich ein
Mittelding zwischen Kalifornischer Highway One und
Vierwaldstädtersee. Für einen Modelleisenbahnbauer gewiss ein
Traum, alles windet sich drunter und drüber.
Dann etwa bei Guernica ein toller Unfall an
der Mittelleitplanke mit Totalschaden, aber glücklich
heilgebliebenen jungen Insassen.
Bilbao
Viertel nach drei Bilbao,
baskisch »Bilbo«. Alles ist hier zuerst baskisch angeschrieben,
eine Sprache, fremd wie Indianisch, schon die Namen
unaussprechbar, moderne Entlehnungen wie Hospital einfach nur
umständlicher geschrieben, typisch für Dialektschreibung.
Controlatua ist Kontrolle, Radarrez Radar, Aireportua Flughafen,
Universitatea Uni. Adi lainoaz heißt langsam fahren, das scheint
echt zu sein. Christian sagt mir später, dass in Bilbao
eigentlich nicht baskisch gesprochen wird vor Gericht
allerdings und im Parlament ist es zugelassen , und dass die
Basken sich erst jüngst auf eine Einheitsschreibung geeinigt
hätten.
An Bilbao hatte ich schlechte Erinnerungen
und wohl schon seit Bert Brechts Bilbao-Song ein negatives
Vorurteil. Meine Roboterfrau aber führt mich richtig nach Getxo,
die Schilder bleiben bloße Versicherung. In »Geht scho«
(Aussprache von Getxo) wirft sie mich von der Autobahn herunter
an Land, und aus ist es mit der Führung. Straßen in der Stadt,
selbst in Bilbao, kennt die CD nicht. Ich finde trotzdem das
Hotel Artaza (tel. 94-4912852), Ankunft ca. vier Uhr.
Verwandtschaft
Um fünf kommt mich Katja abholen mit Gisela
und Heinz im Auto. Sie waren mit dem Bus aus Madrid gekommen, die
beste Verbindung. Kaum sind wir bei Katja, ganz in der Nähe,
kommt auch Christian (ihr Mann, Heinz und Giselas jüngster
Sohn) zurück von einem Tagestrip nach Frankfurt am Main. Sehr
netter Abend bei Christian Hoedl Eigel und Katharina Hofheinz
Belda, wie sie hier spanisch nach Vaters und Mutters Geburtsnamen
heißen. Der Jüngste, Christian jun., ist krank, Virusinfektion.
Mutter Katja bringt ihn zum Arzt, muss dort lange warten
kein Wunder, Freitag Abend um sieben. Sie kommen aber rechtzeitig
zum Abendessenfahren um neun Uhr zurück. Mit Heinz und Gisela
Zeit für ein paar gute Gedanken (über meinen Vater, den Krieg);
Christians Hobby ist Geschichte. Die Wohnung der beiden
edel-altmodisch, teuer, vornehm, Knesebeck-Style, korrekt
platzierte Kunstbildbände unter der Glasplatte des Tisches,
Bilder und Stiche einzeln messingbeleuchtet. Die Schachspieler
aus dem Herrenzimmer meiner Großeltern in Bozen, wo ich
aufgewachsen bin, hängen über dem Kamin. Hinten ein
Dienstbotentrakt mit eigenem Aufgang. Sie haben ein Hausmädchen
aus den Philippinen, das zur Verstärkung ihre Schwester
mitgebracht hat, dazu einen Teenager wöchentlich einmal, damit
die Kinder Deutsch lernen. Unten ist der Eingang ganz ohne Namen,
dafür aber mit stilvollen Sitzgruppen, Bildern und Teppichen.
Ich vergesse ganz, dass Christian schon über zehn Jahre als
Anwalt arbeitet, Katja auch berufstätig war, wundere mich immer
noch über den Reichtum der Jugend die aber keine Jugend
mehr ist! Ich fotografiere, überreiche die vielen
»Nikolaus«-Geschenke von Gisela. Die Stimmung ist herzlich, und
doch: Ich spüre nur bei Heinz diese ganz gedankenlose
Freundlichkeit des alten Österreichers, muss wieder an seine
Einladungen denken, nicht nur an Gisela und mich eher
Außenstehende zu seinem Achtzigsten in Spanien, sondern auch am
Hof heuer im Sommer spontan zum Essen von zwölf Leuten bei
»meiner« Gisela was er danach wohl auf Anweisung seiner
Gisela mit einem großen Blumenstrauß hatte sühnen müssen ...
Ich entscheide mich, weiterzureisen, die südliche Route zu
nehmen; das Wetter ist zu schlecht, um genüsslich die Küste
entlang zu fahren.
Sehr gutes Abendessen in noblem
Fischrestaurant mit Windmühle an der nächtlichen Bucht, Heinz
leider alt geworden und gelegentlich ein bisschen durcheinander.
Vorspeise: warme, grüne Pfefferschoten und Pilze aus der Pfanne,
danach: Fisch (eher runde Fischpflanzerl Stäbchen-Art) und
Tintenfisch in schwarzer, eigener Tinte, zum Abschluss: süßes
Dessert.
Bis ich das getippt habe, ists nach
zwölf. Am Samstag früh lese ich noch die »tausend Frauen«
aus.
Statistik: 778 km (102376) in ca. 71/2
Stunden. Hotel 8434 Pts = 50,69 Euro.
3. Tag, Samstag, 13. November 1999
Bilbao-Burgos-Frómista
Nach guter Nacht, gutem Hotel und noch voll
vom späten Abendessen erst nach neun Uhr los. (In der Früh fast
eine halbe Stunde Verlust beim Versuch, das Modem ans Telefon
anzuschließen, wohl ein ISDN-Telefon!) Zehn Grad, bewölkt, fast
regnerisch. Morgentraurigkeit, wohl auch vom Zuendelesen des
Indianerbuches. Im Auto schnell Pläne gemacht, wohin es
zunächst gehen soll. Jedenfalls nicht »zurück« Richtung
Pamplona, auch Santo Domingo de la Calzada wird ausgelassen und
direkt Burgos eingestellt, 125 km Luftlinie.
Kurz vor zehn los auf die Autobahn. Nach vier
Kilometern Fahrt ist meine Pilotin im Bilde, mit ihr gehts
stressfreier weiter; überhaupt angenehm leichter
Samstagsverkehr. Ich bin wieder überrascht von Bilbao, dem
Konglomerat und Schmelztiegel, dem Kontrast zwischen Bergwiesen
mit verfallenden Naturstein-Bauernhäusern, riesigen Wohnblocks
mit heraushängender Wäsche und hochgestreckten Fernsehantennen,
modernen Baudenkmälern als Kunst an der Autobahn,
Schwerindustrie, Werften, dampfenden Stahlwerken, schwindelnd
hohen Hafenbrücken weiter draußen dann Wasserkraftwerke
und Betonfabriken; abgebrannte Grashügel, später südwärts
gerichtete Waldhänge mit Feuerspuren. Mit nichts ist Bilbao zu
vergleichen ich denke sogar ans Sauerland, die
Industriegegend um Siegen. Gila ruft mobil an, ich bin aber etwas
unkonzentriert zwischen all den Autobahnen und unsicher, wie ich
die Stimmung bei Hödls beschreiben soll. Die Zurückhaltung hat
gewiss an mir gelegen mir wars wie bei angenehmen,
lieben Bekannten, nicht wie en famille. Nur leider machts
jede Beschreibung schlechter, als es wirklich war. Ich hätte
nicht drüber schreiben sollen ...
Nach zwanzig Kilometern endlich scheinbar am
Land draußen. Es geht stetig auf der A-68 die Berge hinauf,
Nebelreißen, Druck in den Ohren. Burgos 143 km, Madrid 375
so weit ist das alles ja gar nicht! Links wird ein ganzer
schwarzer Berg abgebaut, Schiefer? Ich überhole den Linienbus
Bilbao-Madrid, mit dem Heinz und Gisela am Montag wieder abreisen
werden, nichts Besonderes, ein guter Reisebus, Mercedes. Dann Provinz
Araba; weiter bergan, Laubwälder, letzter Blick aufs
verhangene Meer. Mendelartige Bergabfälle, Kalk? Paso de
Subijana, Schlucht, Höhlen, schließlich die Ausfahrt
Subijana. Hochebenen, wieder Anstiege, Tunnels, Talenge, daneben
die Staatsstraße mit Lkw-Schlangen. In Antorbo
eine Düngemittelfabrik. Riesige Felder, kein Baum, nichts, zum
Heimweh kriegen! Die 120-Schilder blinken, weil jeder zu schnell
darauf zu fährt. Oben feiner Schnee, Passhöhe ca. 950 Meter,
nur mehr zweieinhalb Grad. Gilas Brote trösten.
Burgos
Nach 167 km um viertel vor zwölf bei 1,5 Grad
hinein nach Burgos. Oben neben San Esteban geparkt.
Sauwetter.
Die Kathedrale dunkel und innen
vollgebaut, außen allerdings mächtig an den Berg gelehnt und
leider gerüstumgeben. Schöner Kreuzgang, Silberschmiedarbeiten,
ein Prachtwagen mit Silbergans wie für den Karneval, Altäre,
Figuren, Fülle. Das Tor angesehen, ein »Arco de Santa
Maria« ohne Maria, dafür mit Karl dem Großen. San Gil
war zu, Renovierung oder Mittag. Schön San Nicola
mit dem riesigen Holzschnitzaltar (»Rentabel«), dazu Duft von
weißen Lilien, wohl für eine Hochzeit? San Esteban
als Altarmuseum, endlich hell sichtbar; schön.
Mit dem Auto hinaus vor die Stadt zur Miraflores-Kartause,
wenig zu sehen, wohl auch, weils so kalt ist. Die
berühmten Grab-Skulpturen liegen flach und sind unsichtbar; der
Altar, der ja wirklich schwungvoll aufgeteilt ist, aufrecht
aber im Dunkeln. Jetzt noch gegenüber von Burgos zum
Kloster Las Huelgas (»Mußestunden«), es gießt, und die haben
zu. Mit dem Autopiloten im Ort Villagonzalo-Pedernales Shell
gesucht und schließlich mit Hilfe zweier Fernfahrer gut
gefunden, nur war das wieder am anderen Ende. Dazwischen meine
eigene Desorientierung: Ich hatte im Regen seit der Einfahrt Nord
und Süd falsch im Kopf; jetzt war es fast unmöglich, das mental
wieder richtig zu bekommen. Mein Tagesziel Frómista, auch am
Jakobsweg, eingestellt, und oh Wunder wieder bei
Huelga vorbeigekommen. Ich also ab dorthin, doch sie machen erst
um vier Uhr auf. Regen, eineinhalb Grad; im Auto gewartet.
Und dann eine sehr schöne, lustig-bewegte,
fast zu lange Führung durch das Kloster Huelva,
Nähkästchengeschichten aus dem zwölften Jahrhundert in
Spanisch und natürlich nicht alles verstanden. Das
Kirchenschiff ist ganz zugebaut, auch hier Altäre, Gemälde, vor
allem Gräber, zwei Kreuzgänge. Interessant die
»Kleidersammlung« aus dem 12. Jahrhundert, eigentlich aus dem
einzigen 1809 von den Napoleonischen Truppen verschonten Grab.
Bei hereinbrechender Dunkelheit weg aus Burgos.
N 620, weites Land, Sierra Nevada. Mit 120 die 120 entlang, ha!
Es geht einen Pass hinauf, der Jakobsweg ist wohl der parallele
Feldweg mit gelegentlichen Steinpyramiden. Oben dann wieder
typisch die Straßen immer geradeaus bis zum nächsten Dort, erst
dort darf eine Kurve kommen. Und wenns ein besseres Dorf
ist, dann hat es eine Umfahrung, also rechts, dann links, dann
wieder rechts und weiter, im Sichelschritt. Die minderen Käffer
durchfährt man. Alle aber haben schon bessere Zeiten gesehen,
zwei, drei Häuser mit Veranden und darunter prunkvolle Portale,
jetzt verfallend. Draußen vor dem Dorf jeweils der Gottesacker.
Einmal schickt mich meine Frau »scharf
rechts«, wos in die 611er geht, hatte aber links gemeint
angeblich verwechseln Frauen leicht links und rechts
na ja, sie korrigiert sich schnell: »Wenn möglich, bitte
wenden«. Häufig wird hier rechts in einem Halbring abgebogen,
dann erst links gefahren. Osorno, trostloses
Kaff, das Größte das Kino. An in Frómista um
halb sechs, sehr schönes Zimmer im Hotel San Martín.
294,8 km, Stand 102670.
4. Tag, Sonntag, 14. 11. 1999, Frómista-León-Astorga-Villafranca del Bierzo
Um halb neun »zum Frühstück«, dabei in
Gesellschaft dreier Reisender einen Orangensaft und einen Kaffee
genommen. Die Kirche macht erst um halb elf zur Besichtigung auf.
Eine Messe gibts dort keine, die ist anderswo bei den
Patres um halb zehn. Ich will dorthin und dann weg nach León.
Und doch kam es etwas anders wie das
auf Reisen so geht und »Bildung« genannt wird. Zuerst die
Messe, ja, im Gemeindezentrum, gelesen von einem bärtig-jungen
Priester, Modell Sozialarbeiter, vor vielleicht vierzig alten
Frauen und drei Männern. Nur eine Junge war dabei, die sah ich
später wieder. Die Kirche stirbt aus oder die Leute gehen
erst am frühen Nachmittag, dann wirklich bei den Patres. Man
sollte nicht zu schnell Schlüsse ziehen. Anrührend das freie
Singen, diesmal auch das Hand-Schütteln. Mich bewegt eine Messe
immer, obschon sie nicht mehr lateinisch ist, wo ich hätte
mitbeten können.
Nach der Kirche fromm gezahlt, denn Visa und
Mastercard waren vorher abgelehnt worden. Jetzt gings: 5660
Pes. samt Compuserve-Telefonaten und »Frühstück« zum
Räuberpreis von 425 Peseten.
Frómista und Palencia
Inzwischen war auch San Martín offen
das Hotel liegt genau am Kirchplatz und sehr, sehr
eindrucksvoll schlicht. Aus dem Jahr 1066 ist sie die
zweitälteste Spaniens, innen leer bis auf drei Skulpturen in der
Apsis und einem blechernen Leuchter (eine schmiedeeiserne
Öllampe aus dem zwölften Jahrhundert, die die Stifterin Doña
Munia gleich mitstiftete). Die Farbe der Kirche, sandstein
konsequent, die romanisch einfache Form mit drei Apsiden macht
sie »design«-perfekt.
Lustig die vielen Figuren an den Säulen, der
Schmuck außen, aber auch wieder nur oben, nicht allüberall wie
im spanischen Barock. Dazu hatte ich eine deutsche Führung.
(Mehr über San Martín in Fórmista siehe deutsches
Informationsblatt.)
Danach hab ich mir gegenüber vom
schönen Kirchfräulein in der Käsekooperative zwei riesige
Käsestullen belegen lassen, die mich durch den Tag brachten. La
Venta de Boffard war das, Boffard-Käse.
Bei weiterhin Sauwetter, Regen, vier Grad
südwärts nach Palencia. Nur gut, dass die »Sierra Nevada«,
die »Beschneite«, das noch nicht ist! In Mónzon de
Campos ein arabisches Schloss links am Hügel. Davor
Höhlenwohnungen im Sandstein, vielleicht auch nur kalte Keller.
Rechts ein stinkendes Stahlwerk und wieder links zum Abschied
Autoschrott. Etwas später ein weiteres Schloss: Palacio
de Altamira in Fuentes de Valdepero.
Palencia: Verregnete
Provinzhauptstadt (82.000 Einwohner, rege Bautätigkeit) am
Sonntag früh mit verriegeltem Dom, wie hier oft »wegen
Renovierung«. Weiter um viertel vor zwölf auf die N-610, der
Verkehr hat mich wieder. Verfallene Bewässerungskanäle,
verfallende Bauernansitze aus Sandstein, verfallende Dörfer wie
»Ghost towns«, knapp vor den Orten verfallende runde Speicher,
doppelwandig; darum herum riesige Felder; Meereshöhe 750 m, und
heute 5,5 Grad. In den Orten in einen, Villafrades
de Campos (gerade schon in der Provinz
Valladolid), bin ich hineingefahren , gibt es durchaus
neue Häuser, nur die Peripherie verkommt aber verkommt
schön, denn gebaut wurde mit Stroh und Lehm, später mit
Hohlziegeln und Lehmstrohputz. Die Region heißt »Tierra
de Campos« ... Das nächste Provinzkaff, Villalón
de Campos (786m hoch), sehe ich mir auch an: verfallende
Arkaden, die Kirche mit gefährlichen Rissen über dem
Seitenschiff.
Kurz danach, um halb eins, die Sonne! Sechs
Grad. Sommer über dem Flachland! Farben kommen heraus, der
Himmel, die Weite nur von Hochspannungsleitungen
gegliedert. Bei der »Oase« (eigentlich ein Straßenknotenpunkt)
Becilla auf die 601, die ist noch befahrener.
Hinunter nach Mayorga am Cara-Fluss
(lt. Atlas: Cea), 773m, das Foto mit dem Mast. Eine Schafherde
mit unbewegtem Schäfer ich dachte erst an eine
Vogelscheuche. Sonntagsjäger mit Hund, gelegentlich ganze
Treibjagden. Orte am Hügel, etwa Valverde Enrique,
und das Höchste ist wieder der Funkturm. Sonst entlang der
Straße pleitegegangene Puffs, Clubs genannt, rosa, rostig und
»cerrado« oder zum Verkauf.
Dem schlechten Wetter bin ich scheints
entflohen. Im fernen Norden die überzuckerten Cantábrischen
Cordilleren. Über die neue A 66 Richtung León
meine Pilotin kannte die noch nicht. In León leitet sie
mich statt hinein den Jakobsweg zum Flughafen hinaus. Dabei finde
ich eine Shell-Tankstelle, tanke und wasche den Dreck aus den
Dörfern weg in Deutschland sonntags bekanntlich staatlich
streng verboten , und drehe zurück nach León, zehn vor halb
zwei, dreizehn Grad, richtig müdemachend.
León und Astorga
León, Großstadt, Tiefgarage am
Domingo-Platz. Km 173,8 bzw. 102845. Und sehr beeindruckend,
obwohl ich die Königsgruft nicht gesehen habe sonntags
zu. Viele Leute auf den Straßen, alle kurz vor dem Mittagessen
im Restaurant. Durch die Einkaufstraße zur Kathedrale.
Dort ist nachmittags um zwei gerade große Messe.
Ein Einbau (Renaissance-Trascoro) teilt den Dom in Gläubige vorn
(viele), Honoratioren in der Mitte auf Holzgestühl (keine), und
Touristen hinten, sogar hinter Glas. An den Seiten kann man
vorgehen. Dazu die Liturgie, gelbes Licht am Altar, bläuliches,
dunkleres durch die berühmten Glasfenster, und, nicht auf den
Fotos, die Orgel, tief und gefühlvoll. Ich hab mich im
Mittelschiff ganz nach hinten auf die Treppen gesetzt (der
Eingang ist nur seitlich) und im Halbdunkel Tränen der Rührung
verdrückt. Der Kreuzgang zu, alles andere wie Panteón
und Königsgruft auch, schade. Dann zu San
Isidoro, genau am Jakobsweg (Messingmuscheln sind im
Gehsteig eingelassen), schlicht und schön. Die Placa
Mayor wenig beeindruckend, die Altstadt auch nicht.
Kommunistische Sprayereien, ein aufgebrochener Telefonverteiler
(den ich brav schließe), Verfall zwischendurch besonders der
schmiedeeisernen Balkone.
74,6; 102846, 11 Grad, raus aus León,
Ausfallstraße N-120 und doch zugleich der Camino,
Europawanderweg mit Sternen und Wanderin und Radfahrer. Alles nur
ein Makadamweg mit Stecken am Rand wie für Schneepflüge bei uns
im Gebirge, in einer reicheren Gemeinde mit Platten und
Straßenlampen. Kilometerweit geradeaus (vielleicht 25 hier),
echte Buße für Wanderer, stürmisch-kalt. Nur gut, dass
inzwischen »sola fide« auch im Katholischen gilt!
Vor Astorga
an der Tuerto-Brücke steigen die deutschen
Busreisenden von heute früh aus und gehen zu Fuß nach Astorga,
dem römischen Astucia Augusta.
Fünf vor halb fünf, 102.893, 11 Grad, Sonne,
und hinein in die Gassen von Astorga, ich wäre
fast drin steckengeblieben. Der Dom im Abendlicht sehr
beeindruckend, aber zu. Der »deutsche« Bus kommt tatsächlich
her! Überraschend neben dem Dom ein Kitschpalast von Gaudí,
Rudolf Steiner hätte seine Freude gehabt und den
Waldorf-Jugendstil verworfen ...
Um fünf wieder weg. Ganz überrascht vom
Anstieg in die Kordilleren auf nagelneuer Autobahn (auch meine
Pilotin ist überrascht!). Rote Erde oder schräge
Schieferschichten bei Autobahndurchstichen. Wie Nevada, in
Amerika mein ich. Manzanal-Pass, 1221m,
viertel nach fünf. Steil wieder bis 650 m hinunter, Laubbäume
im Abendlicht, zunehmender Mond, Kurvenschmuck, Sonnenuntergang,
Autobahnende. Hinein in ein Tal, auf der Endmoräne Villafranca
del Bierzo, mit Fabrikschornstein aus Ziegeln und einem
Storchennest drauf, eine romanische Kirche aus dem zwölften
Jahrhundert, Pilgerunterkunft, und teurer Parador
(wollen 9.200 Peseten gleich 110 Mark). Ich passe und miete mich
am Dorfplatz (Plaza Generalisimo, 6) im Hotel na wie?
»San Francisco« für 3.991 Peseten ein, 47 Mark (Tel.
987540465, Fax 9875444). Das Zimmer ist natürlich sehr klein,
das Bad leicht abschüssig, aber alles proper. Im leeren
Gastzimmer kann ich wunderbar Tagebuch schreiben im feinen
Parador hätte ich mich geschämt.
Abends kleine Wanderung durch das verfallende
Dorf nur die Banken und Sparkassen prosperieren, kein
Wunder, dass die Leute Kommunismus pinseln. Kalt. Das alte
Kloster ist ein Restaurant mit Hotel geworden, Hospederia
de San Nicolás el Real, 150 Pilgerbetten, oder
komfortable Zimmer zu 7.200 Peseten (Tel. 987540483). Mir
suspekt. Ich esse im lokalen Lokal, für 1900 Peseten, echt
schlecht die mir bekannten Artischocken gabs nicht
als Vorspeise, so erwischte ich in der Eile Suppe mit Kutteln,
grausig. Das Steak war ähnlich ungewöhnlich und keines.
312,4 km, 102984.
5. Tag, Montag, 15. November 1999, Villafranca-Orense-Tui-Portugal-Baiona-Santiago
Gila weckt mich um zwanzig nach sieben,
mobiltelefonisch. Mein T28s von Ericsson ist so klein mit Klappe,
dass sie sich am akustischen Kratzen meiner Barthaare stört ...
Um acht zweites Wecken von nahen Kirchenglocken, wie so oft in
Spanien zwar freihängend aber nicht wohlklingend, vielleicht
gerade deshalb.
Ich entschließe mich zu einer Südroute, will
ans Meer. Lugo mit seiner Stadtmauer muss erst mal ausfallen.
(Das hab ich dann am Rückweg im Regen besucht.) Um halb
neun los, bei fünf Grad, in das Tal (richtiger »hinaus«), die
Sonne geht über Laubbäumen auf. Nach acht Kilometern rechts ab
die N-120, die mir bis Ourense (Orense) treu blieb. Breites Tal,
400 m hoch, ein Betonwerk.
Was wird aus unserer Baukultur werden, wenn
sie alt ist? Werden unsere Tiefgaragen, Autobahnen, Hochhäuser
dann Denkmäler sein? Stein- und Lehmmauerwerk, Fachwerk, Gips
und Kalk verfallen wenigstens malerisch, aber Beton?
Stauseen. Zwischen zwei Tunnels der
wildromantischen Straße überquere ich wieder einmal im Viadukt
die Sil (ich mach den Fluss mal weiblich) und bin in Galizien!
Wie das klingt für mich nach Ostjuden; ist aber nicht so
gemeint. Die Sil fließt übrigens bei Ciutelo
(da komm ich auch noch vorbei) in den Miño,
den ich bis zur Mündung ins Meer verfolge, sogar dort
drübersetze, aber auch das kommt noch. Jedenfalls sollte es die
ganze Zeit bergab gehen, tuts aber nicht. Passhöhe bei Sequeiros
560 m. Im Tal Weinbau, herbstbelaubt, »weinrot«, zwei Grad,
relativ dicht besiedelt. Lauter »Sierren«, ich verlasse die Sil
durch die Sierra de Agua Elevada Richtung Monforte
des Lemos. Später vorbei am Ort »a Rua«
bayrisch.
Häuser aus Granit scheinen hier die große
Mode zu sein, der erste Stock eventuell hell, obendrauf
möglichst hell-dunkel changierende Dachziegel. Zäune werden
gern aus senkrechtstehenden Granitstangen gemacht, sie sehen wie
steinerne Bahnschwellen aus, etwas grabstättenartig. Nur bei den
romanischen Kathedralen bin ich dankbar für den unverwitternden
Granit!
Ein Stausee nach dem anderen, ein bisschen
einspurige, elektrifizierte Eisenbahn neben der Straße
(Palencia-Coruña), besonders schön bei Sequeiros. Meine
Pilotin, die weder Monforte noch andere Orte am Weg gekannt hat,
nur Orense, erzählt immer wieder und wieder, ich solle lange der
Straße folgen stets, wenn sie wieder weiß, wo sie ist,
sagt sie das, kurz vor Orense dann noch mit
genauen, aber sonderbar springenden Kilometerangaben (14, 13, 8,
12 ...). Zwischendurch kommandiert sie »scharf links abbiegen«,
wo weit und breit keine Abzweigung ist, aber das macht nichts.
Ich muss mit ihr Geduld haben, hat sie mit mir doch auch immer
Geduld, auf dieser »Pilgerreise«: Vielleicht pilgert sie
zwei Schritt vor, einen zurück? Überhaupt ist es mit ihr wie
früher mit den Steckdosen im Hotel meist passts,
manchmal aber auch nicht.
Ich fahre bei Regen und Sonne direkt in einen
Regenbogen hinein, ländlich, schön. Über die Lor, ein
abgebrochener Überholvorgang, der Tanklaster posaunt aus
Protest. Entschuldigung! Hinunter ins Tal, weiter Blick, das Schloss
Monforte in der Sonne.
Ich hätte nach Orense auch eine malerische
Südroute durch die Berge nehmen können, aber die Hauptstrecke
ist schon recht.
Vor Orense Halbautobahn, »via rapida«, 140
mit automatischem Gas.
Orense und Tui
Kurz nach zehn und nach 145 km in Orense.
Hin und zurück über einen neuen Miño-Viadukt,
ich muss doch am linken Ufer bleiben, sehe einen Puente
Romano, im 12. Jahrhundert auf römischen Fundamenten
für die Pilger gebaut.
Orense ist ein große Stadt am Hang, steil,
Klein-Franzisko. Wieder taucht bei meinen Irrfahrten durch die
Stadt eine Shell-Tankstelle auf (die einzige dort), ich tanke,
parke im Parkhaus, gut, denn beim Ausfahren beobachte ich
Abschleppen übrig bleibt ein roter Aufkleber am Boden,
vom Polizisten höchstselbst dort festgetreten. Vorher nehme ich
im Kaffeehaus (Cafe Victoria, Avda. Pontevedra, 5, Tel. 220488)
noch ein Frühstück, zweimal aufgewärmte Eierspeise mit
Kartoffeln, Weißbrot und Tee.
In der dunklen Kathedrale von
Orense sehr schön die Pforte zum Paradies mit Musikanten am
oberen Bogen, und sehr kitschig eine voll versilberte
Barockkapelle mit langhaarigem Christus. Das Kloster
oben am Berg hat geschlossen. Einheimische sprechen katalanisch
hier, hört sich mit viel njs an, etwas portugiesisch, und
gänzlich unverständlich.
In Orense noch eine peinliche Erkenntnis. Die
kleinen, ordentlichen Häuschen mit der Anschrift »Once«
und als Zeichen einem Männlein: Das sind nicht, wie ich am
Sonntag in León gedacht hatte, Stehschreine für kleine
männliche Bedürfnisse. Aus der Hand des stilisierten Herren
ragt ein dünner Blindenstock, das ist es, und in den Häuschen
sitzen blinde Lotterieverkäufer ...
Mühsam um halb eins wieder aus dem Ort heraus
auf die Autobahn nach Vigo, km 156. Wieder ein Pass, langer
Tunnel. Aber wunderbare Fahrt über diese neuen Autobahnen
(Europa-gesponsert?). Kurz nach eins bei Ponteareas
ab in den Süden nach Portugal. Kurvige Landstraße mit
Eukalyptushainen, gelblich-weiß blühende Yuccas, die Straße
nennt sich »Weinstraße«, die Anwohner plakatieren mit
Leintüchern »Todesstraße«, wie überall will keiner den
Verkehr. In Salvaterra (mein km 233,7) kein Hinweis nach
Portugal, aber der Fritz, der findts. Ich bin fast auf
Meereshöhe, 14,5 Grad.
In Portugal auch nicht
anders als Spanien auf der 101 nach Valença de
Minho (Minho ist der portugiesische Miño), von dort
zurück nach Tui über eine zweistöckige genietete Eisenbrücke,
oben Eisenbahn, unten ich. An einem Lidl vorbei hinauf nach Tui,
zehn vor zwei, 16 Grad. Tui ganz schön aber nicht aufregend,
Kurstadt. Kurz vor drei, 18 Grad, km 186, die Autobahn nach
Portugal hinunter und dann die Landstraße nach Caminha.
Genau um drei mit der Fähre über den breiten, schon
geschätzten Minho nach Camposantos in Spanien
(425 Peseten, MAN-Sechszylinder).
Die Küste
Jetzt die spanische »Highway one«, die
C-550, die Küste entlang nach Norden; wirklich schön. Am Cabo
Sillerio, dem »Eck«, brennender Müll und ein Auto mit
einem Schlafenden drin. Unheimlich, dabei windig, sonnig und
eigentlich schön ...
Spätestens in Baiona ist der
Genuss zu Ende. Rummel, zunächst Baderummel, der langsam in
Auto- und Industrierummel übergeht. Ich fahre noch bis Vigo
am Meer entlang, und gebe es dort dann endgültig auf. Ein
Moloch. Ein freundlicher Einheimischer fährt mir bis auf die
Autobahn Richtung Pontevedra vor ich
hätt sie sonst nie gefunden im Feierabendverkehr, mit
Kreisen, die nirgends hinführen, Unter- und Überführungen,
Umkehrschleifen, alle mit null- bis zweisprachigen Hinweisen.
Selbst meine Pilotin ist bei so was hilflos, will mich wenden
lassen. Wohl aus Verzweiflung.
In Spanien hatte mich, aus Portugal kommend,
übrigens mein Handy mit der Kurzmitteilung vom »Pannenservice«
begrüßt: »Willkommen an Telefonica MoviStar. Um ein Taxi zu
bitten, ein Restaurant zu reservieren, um Information sich zu
bewerben. Bitte rufen sie 2424 an.« Dabei ist die 2424
zum Anrufen gleich hinterlegt. Klasse!
Um zehn nach fünf fester Entschluss, Santiago
einzustellen, und nichts wie hin. Endlich wieder durch Wald und
Hügel, kleiner Pass, weg von der Industrie. Die zwei Mauten wie
immer mit American Express bezahlt, 505 und 420 Peseten. Selbst Padrón
(früher Iria Flavia) mit seiner römischen Brücke über »die«
Ulla lasse ich links liegen, »das
geheimnisvolle westliche Ende Europas am Finis terrae«
(Pilgerführer) für mich wird das dann das Obradoiro
werden. Zwanzig vor sechs in Santiago
angekommen, 433 km, 103416, 12 Grad, bewölkt und eher
enttäuschend provinziell, popelige Stadteinfahrt, nur eine
riesige 50-Km-Leuchtreklame.
In Santiago de Compostela (nicht Campostela,
wie ich immer sagte) sofort ein Zimmer in einem Zweisternehotel
gefunden; unten ein kleines Lokal, in dem ich mit
Familienanschluss (Teenager in Streit mit Mutter, katalanisch)
dies schreibe. Darüber ists halb neun geworden, Zeit zum
Essen ... Ich nahm Salat und Eier mit Speck, wobei sogar letztere
unüblich lieblos gelangen: darunter zwei Spiegeleier, darüber
Fritten, und obendrauf zwei Schnitze Speck, der allerdings mager,
ja knorpelig. (»Bar-Restaurante Rois II«. Comidas de trabajo y
a la carta. Comidas y banquetes para estudiantes. San Clemente,
32. Tel. 981585496. Rois ist ein Ort, II weil es schon ein Lokal
gab. Wie beim CB-Funk!)
Untergekommen bin ich daneben in einem großen
Dreibettzimmer im Hostal-Residencia Alameda, San Clemente, 32,
alles nur ein paar Schritte weg vom Zentrum, Tel. 981588100 Zi.
104, Fax 981588689, www.archy.com/hostala-lameda, für 5.885
Peseten die Nacht, 70 Mark. Eine Fußmatte im Bad musste ich
reklamieren.
432,5 km an dem Tag, Stand 103.416 km.
6. Tag, Dienstag, 16. November 1999, Santiago
Um zwanzig nach neun erster Anruf einer
Dame, die fragt, ob sie auch die linken Parkplätze bei Debis
verwenden darf, die rechts seien voll. Sie hat sich verwählt,
meine ich; nein, sagt sie, die Zentrale hat sie verbunden. Und
ist dann erstaunt, als ich ihr sage, ich sei in Santiago ...
Erklärung: Die Rufumleitung meiner Direktleitung bei Debis
(0711-972-1720) zum Handy ist immer noch geschaltet.
Zum Frühstück Milchkaffee und Hörnchen in
»meinem« Gasthaus nebenan das mich das Auto vor seiner
Tür stehen lässt , und noch schnell mit dem Ohmmeter aus
ebendiesem Auto beim Reparieren des Toasters geholfen.
Gegen zehn die paar Schritte zum Dom. Für
Spanien ists noch früh, keine Fremden, die
Andenkenverkäufer stellen erst ihre Buden auf. Frisch und
sonnig. Der große Domplatz (Plaza de España
oder del Obradoiro, dieser »Arbeit aus Gold«)
mit der Domfassade ist wirklich beeindruckend. Die Fassade wirkt
beim nötigen Blick nach oben Santiago liegt am Hang
südamerikanisch barock, ist weniger eine Fläche als eine
hochgezogene Landschaft aus inzwischen flechtenbewachsenem
Granit. Hinter einem Gitter offene Treppen hinauf zum Eingang,
und dort die Paradiespforte ähnlich der
in Orense, nur dass ich hier das Gefühl habe, höher gehts
nicht, weiter gehts nicht, weiter westlich ist die Welt zu
Ende. Und ich denke: Möge ich dereinst durch so eine Pforte
eingehen.
Innen ist der Dom riesig, eine eigene Welt,
vorne vollgebaut mit Gold und Silber, über allem thront hinter
dem Altar eine silberne Jakobsbüste, ein paar
Treppen hoch, man kann hinter ihm vorbeigehen und ihm die Hände
auf die Schultern legen. Darunter, in der ganz kleinen Krypta,
liest ein Priester ganz allein die Messe am Grab des Heiligen
Jakob. Frömmigkeit und Romanik, Schaulust und Hallotria treffen
hier zusammen.
Der Beichtstuhl für deutsch und ungarisch ist
leider verwaist, die Italiener werden erleichtert. Allgemeines
Foto-Posieren vor dem Altar, zwischendurch wackere Pilger in
sportlicher Gebirgsausrüstung und braungebrannt-verwegen
anzusehen. Besonders schön das Südportal, Puerta de las
Platerías (der Goldschmiede), eine Collage aus
romanischen Skulpturen, aber »gut gemacht«. Krypta,
gotischer Kreuzgang, Domschatz, ich besichtige in Ruhe,
und gehe gegen halb eins wieder in die Kirche. Hier ist
Romanisches in Granit gehauen, so hat mehr davon gehalten als
anderswo, wenn überhaupt so viel an einem Fleck beisammen war.
Ein großer romanischer Einbau im Dom wurde herausgerissen und
inzwischen im Museum rekonstruiert.
Die Mittagsmesse für Pilger
ist im Gange, die Stimmung eher gut als andächtig, fünf
Priester zelebrieren in rot, einer dirigiert oben von der Kanzel
in weiß weitausladend das Volk; zum Friedensgruß wieder
allgemeines Händeschütteln. Ich bin dauernd halb zu Tränen
gerührt, hin- und hergerissen zwischen In-mich-Gehen und
Foto-Machen. Danach kommen die Tempeldienerinnen und -diener,
junge Mädchen und Männer in zu weiten rostroten Pullis,
ebensolchen dunklen Hosen und Funkgerät am Gürtel zu Ehren: Sie
klappen mitten in der Kirche große, blauweiße Regenschirme auf
und begleiten die Priester mit den Hostienkelchen durch das
Kirchenschiff zur Kommunion für jeden, der möchte.
Danach setzt sich der Bischof die Mitra auf
und verkündet wegen der Menge der Anwesenden den Höhepunkt der
Messe. Die allgemeine, tiefe Bewegung, der sich niemand entziehen
konnte, wird gelöst durch eine fast akrobatische Einlage: Junge
Mönche pendeln das riesige Weihrauchfass durch das Querschiff,
an einem Flaschenzug, der in der Kuppel befestigt ist.
Weihrauchwolken und Gesang steigen gen Himmel. Der Brauch war
gegen Pilgerperspiration gedacht.
Gegen halb eins verläuft sich die Menge,
hinein in die laubengängige Altstadt, ich auch, Andenken kaufen,
Ansichtskarten schreiben bei einem einfachen Mittagessen,
bei dem ich schon wieder Omelette mit Kartoffeln bekomme. Das
Wetter zieht zu.
Nach der Siesta etwas zu spät in der
vergeblichen Hoffnung auf Abendsonne für ein schönes Bild der
Domfassade wieder in die Stadt am Tag darauf sollte es
gelingen , an der Post vorbei (gelbe Post-Vespen,
selbstklebende Marken von der Rolle und schließlich
Löwenmäuler als Posteinwurf) zum Domplatz, dessen Nordseite das
»Hostal de los Reyes Católicos« ist, ein Parador
(Tel. 981582200, Fax 981563094, Santiago@Parador.Es, jetzt
26.500 Peseten die Nacht, über 300 Mark, siehe Katalog).
Die Stadt wandelt sich langsam in eine Bühne,
Winkel, Wege, Aufgänge, Lauben, Kirchenfassaden, kleine
Geschäfte, Laternen, wenig Leute. Später hat es richtig
geregnet, auf die Platten der Gassen.
Ich sehe mir noch einmal die Paradiespforte
an, diesmal mit deutscher Führung, warte noch einmal weiter
hinten gesittet sitzend auf die Messe (echte Pilger sitzen in der
ersten Reihe, Polstersitz). Die Messe spare ich mir dann aber
dank einer schrillen klösterlichen Vorsingerin. Lieber einmal
dem hilfreichen Apostel hinter dem Altar auf die Schulter gelangt
er soll jähzornig gewesen sein, der »Donnersohn«
(Michelin-Führer) und noch einmal zur Gruft mit dem
Silberschrein hinunter.
Anschließend Museen, alle kostenlos und sehr
gut gemacht übrigens: das Pilgermuseum
(deutsches Heftchen dazu) mit einer interessanten
Bildergeschichte des Dombaus, das Monasterio de San
Martín Pinario (Mosteiro de san Paio de Antealtares
man achtet hier aufs Katalanische, Gallego genannt,
während das »Spanische« Castellano heißt).
Zum historischen Abschluss das Museo
do Pobo Galego außerhalb der Ringstraße das
allerdings gerade schloss, sieben Uhr. Ich durfte noch schnell
die berühmte dreiläufige Wendeltreppe
bewundern.
Daneben liegt das Museum für zeitgenössische
Kunst (Centro Galego de Arte Contemporanea, www.cgac.org) und hat länger auf,
gebaut vom portugiesischen Architekt Alvaro Siza,
ein postmoderner Bau nach Art des Frankfurter Kuchenstücks, nur
flacher und kleiner, aber mit ähnlichen zulaufenden Räumen in
Weiß. Toll eine Holztreppe, die in die Zimmerdecke zu führen
scheint (in Deutschland mangels Außengeländer vermutlich nicht
möglich). Interessante Stücke von Hans Hemmert
(dünne, gelbleuchtende Latexblasen mit drin, unsichtbar, dem
Künstler, der dann zum Beispiel Vespa fährt oder ein Baby
hält. »Autofahrt 1996«); von Frank Thiel
Fotos als Bilder vom Bauen aus Berlin nach der Wende (am Alex,
ein Betonfundament Stadt 2/29 1998) und humorvolle
Schwarzweißfotos von Chema Madoz, etwa eine von
einer Schraubzwinge festgehaltene Klaviertaste.
Danach in einer Pizzeria Nudeln Carbonara
gegessen; aber auch die gelingt es hier zu verkorksen: Die
Schinkenstücke sind knorpelhart. Im Regen heim und jetzt in der
Wirtsstube unter einsamen Abendessern mit Fußball aus dem
Fernseher Tagebuchschreiben.
7. Tag, Mittwoch, 17. November 1999, Santiago, nicht nur virtuell
Letzter Tag hier, also früh heraus
was in Spanien so »nach Neune« ist , die Straßen noch nass
von der Nacht. Durch den leeren Dom zuerst ins Museum zum
Heiligen Land (Museo de Santa Terra), kein Mensch, nicht
einmal ein Aufpasser. Das Licht sprang mir von Saal zu Saal
sensorgesteuert voran. Santiago ist so reich mit Schätzen, dass
sie schon keiner mehr ansieht, schade. Ein großes Modell
der Basilika vom Heiligen Grab, 1950 von Bruder
Bartolomé de las Heras gezimmert, sein Werkzeug samt
Metabo-Handbohrer ist mit ausgestellt. Ein Kapitell aus der
Kreuzzugszeit vor 1187 mit Geschichten aus dem Leben des Heiligen
Jakob von der Verkündigungskathedrale in Nazareth ist mir noch
aufgefallen.
Dann nebenan in das Hostal Hogar San
Francisco gesehen ***, Campillo de San Francisco,
3, Tel. 981572463, -4, Fax 981571916, DZ 10.300 Hochsaison (120
Mark), sonst 8500 Peseten (100 Mark). Ein sehr schöner, luftiger
Renaissance-Kreuzgang.
Die innen riesig hohe Kirche St.
Martín Pinario, wieder eine Museum, habe ich auch noch
besichtigt der Eintritt ist überall frei , die Kirche
San Franzisco auch.
Und dann erlebte ich durch Zufall einen
Höhepunkt des Tages: »Santiago virtuell«,
eine Ausstellung bis Ende Dezember 1999. An nichts wurde da
gespart. Zuerst wurde ich dreidimensional laserabgetastet
(gescannt), was wegen der geschlossenen Augen und dem
einheitlichen Grau rein eine Totenmaske produzierte. Für 100
Peseten, ne Mark, durfte ich sie mir auf Diskette mitnehmen
(meine Datei Santiago.wrl). Dann entdeckte ich, dass mehrere
Kameras auf den Gebäuden und im Dom das Geschehen dort alle zehn
Sekunden live ins Internet übertragen, sogenannte Web-Kameras
oder WebCams. Entweder man tastet sich von www.Xacobeo.Es durch,
oder man adressiert zum Beispiel mit www.crtvg.es/CamWeb/camweb.html
direkt die Kamera am Domplatz gegenüber dem Treppenaufgang zur
Paradiesespforte [Nachtrag April 8: xacobeo.es ist schlecht zu erreichen,
die Domplatz-Webcam ist auf www.crtvg.es/camweb/index.asp?id=9&mn=COR]. Anschließend hab ich natürlich Gisela
angerufen und ihr internett zugewunken, ebenso Michael Spehr von
der FAZ und Freund Emmelmann, der das Bild festhielt (mit
Alt-Druck in die Zwischenablage) und mir zu-e-mailte, damit ich
mich am Abend im Hotel selbst sehen konnte:
Besonders beeindruckend muss der elektronische
Blick in die Kirche während der Pilgermesse sein, etwa 12.50
Uhr, wenn das Weihrauchfass geschwenkt wird. Eine andere Kamera [www.crtvg.es/camweb/index.asp?id=10&mn=COR] beobachtet unbeweglich die südliche
Dompforte, die Puerta de las Platerias mit den romanischen
Figuren und den Platz mit dem Spritzbrunnen davor. Diese fixe
Kamera wäre für Winke-Winke eigentlich noch besser geeignet
gewesen ...
Im virtuellen Santiago hinterließ ich dazu
noch mein Portrait in einem Mosaik, das ab 2000
im Internet zu sehen sein wird; nur nach Fritz Joern suchen, ich
bin dann rechts oben im Blauen!
Als nächstes gabs einen Dombesuch
dreidimensional mit ordentlich echtem Weihrauch
aus dem Boden, als das Weihrauchfass beängstigend plastisch auf
die Polfilter-bebrillten Zuschauer (zwei) zuschwang. Im Ernst:
Die romanischen Statuen waren, da aus Augenhöhe gefilmt,
besonders gut zu sehen.
Zum Schluss dank einem
Silicon-Graphics-Onyx-Bildbearbeitungsrechner und 13 Gigabyte
Daten noch ein Sonderflug über Galizien auf
einer zwei mal drei Meter großen Leinwand. Einzelne Städte,
sogar Dörfer wie Mondarizo konnten über ein Menü angeflogen
werden. Zwischen Landkarte und Naturansicht (in zwei Schärfen)
konnte gewechselt wechseln. So habe ich die Kathedrale von Tui
noch einmal gesehen, diesmal von oben und von der Seite, viel
schöner als in Wirklichkeit!
Ja, Fußpilger bekommen in Santiago eine
kirchliche Bestätigung auf gelbem Röllchen, die lateinische Compostela
(»Capitulum hujus Almae Apostolicae ... notum facio es
folgt der Name hoc sacratissimum Templum pietatis causa
devote visitasse«). Web-Pilger wie ich lassen sich zum Beweis
ihrer Reise einfach über das Internet ansehen. (Pilger sind
diejenigen, die neben anderen Frömmigkeiten zu Fuß oder zu
Pferd mindestens hundert Kilometer oder mit dem Rad zweihundert
Kilometer machen, nachweislich! Oficina de Acolgida al Peregrino
in der Casa del Deán, Rúa del Villar 1, http://www.archicompostela.org,
Oficina.Peregrinos@Planalfa.Es.
Ein guter deutscher Pilgerführer ist:
»Praktischer Pilgerführer« von Millán Bravo Lozano,
Everest-Verlag, ISBM 84-241-3835-X) Eine Glosse
und Details unten.
Mittags um zwölf war ich noch einmal in der Pilgermesse.
Der Bischof begrüßte die Pilger (mit Rucksack) sogar in
Deutsch, und das frei! Nach weiteren Sprachkünsten (galizisch,
italienisch) war mir die spanische Predigt dann eher
uninteressant, ich schlich mich weg, da rief gerade Freund
Herneid aus München an. Gleich wieder zurück zum Gottesdienst:
das gemeinsame Singen, frontal dirigiert, klappt gut, besonders
beeindruckend beim lateinischen Paternoster. Schließlich wieder
das Weihrauchschwenken, das ich mir heute ideal vom Querschiff
her angesehen habe. Ein Flaschenzug ist das nicht, nur im
»Himmel« eine Achse mit zwei Spulen, eine für den
Weihrauchkessel, eine für das Zugseil, das sich unten teilt,
damit die sieben (gezählt!) starken Männer es manövrieren
können. Anschließend sofort gedämpfter Applaus
...
Der Nachmittag ging dann entspannt drauf mit
Wandern durch die Stadt die Quergassen sind zum Teil nur
eineinhalb Meter breit , mit Ansichtskartenschreiben, Beobachten
eines geschickten Spielautomatenleererpaares, Unterhaltung mit
französischen Studentinnen in einem Kaffeehaus die Stadt
ist voll von Studenten, die Medizin-Fakultät
besonders bekannt und Medailleneinkaufen (bei der
schönsten Verkäuferin, die ich je sah, wie aus dem Fotoroman
[Fotonovela]).
Ein zentrales, einfaches Hotel in der
berühmten Rúa do Vilar, 65, Tel. 981586523,
Hostal Uso, hab ich mir noch notiert, DZ 5350 Pesten
Hochsaison (63 Mark), sonst 4280 (50). Nur das Auto davor stehen
lassen, wie bei meinem, das geht dort nicht.
Brot, Käse und Wurst für die morgige Fahrt
einkaufen, Wein zum Mitbringen, ins Hotel und dann routinemäßig
ins Gasthaus zum Schreiben. Danach nach Empfehlung des Chefs
immer eher mürrisch Salat gegessen und nach
hiesiger Art Fisch mit Kartoffeln, grünen Schmuckerbsen
in fetter, aber guter Soße.
So, und jetzt ist es halb elf. Zeit, für
heute Schuss zu machen. Ade Santiago. (Die Standardanrede ist
hier »Óla!«, Wiedersehen »Vale!«, zur Freunde der Lateiner.)
Asta mañana!
8. Tag, Donnerstag 18. November 1999, Santiago-Lugo-Oviedo-Riegu
Heute hieß es Abschied nehmen von Santiago,
nicht schwer, bei dem Regen, Nebel, der Kälte (10 Grad), und
doch ... 8.35 Uhr, Kilometerstand 103.416 km.
Nordwärts auf der schönen, neuen Autobahn
nach La Coruña. Die lokalen Sprachmatadore und
Sprayer überpinseln gern die Ortsschilder; besonders der
bestimmte Artikel scheint es ihnen angetan zu haben, zumal sonst
wenig Unterschied ist, jedenfalls nicht so viel wie in Südtirol
zwischen Italienisch und Deutsch. Ich vermute, dass es bei den
»Galenen« (ich nenn die Katalanen mal so, weil jeder
Zahnstocher hier »Galexo« heißt) zum Beispiel »a« und bei
den »Spaniern« (Kastilier) »la« Coruña heißt. Das x wird
wie das spanische j ausgesprochen, unser ch. Das hatten die
Römer wohl noch nicht, deswegen das Durcheinander und im
Deutschen eine Langschreibung mehr (wie sch fürs
englische ch oder das tschechische c mit Hatschek).
Ich schweife ab, denn es geht wunderschön
durch den Wald, Pinienwälder, wilde Farnwiesen, es könnte am
Sam droben sein (unserem Südtiroler Hausberg), wenn nicht
Eukalyptusbäume dazwischen stünden. Die Fahrt auf dem frischen
Belag mit festgestellten 140 durch den feuchten »Tann« ist
absolut ruhig, mein Radio ist aus, und der Sechszylinder tut
elegant seine Arbeit mit genau 3000 Touren (U/min).
Acht Grad, Nebelnässen, fast Nebel, hinunter
ans Meer, lieblich, Ackerbau und Viehzucht. Schilfhalme, unten
grünbuschig und spitz entblättert, säumen mit ihren langen
hellen Hälsen und den Staubwedeln oben drauf die Straße. Nach
55 km Fahrt zweige ich zum Tanken nach Arteixo
ab, südlich von Coruña, und verfahre mich saumäßig. Nachher
wieder auf der Autobahn Frühstück mit Brötchen, Wurst und
Käse bei Standgas. Lkws mit Gasflaschen. Um viertel vor 11
wieder an derselben Stelle, weiter Richtung Madrid. Bei Montesalgueiro
über den Pass, 500 m. Es gießt. Um 11.11 Uhr gehts über
den Miño, »meinen« Fluss von Orense bis nach
Portugal (dort »Minho«), der an Lugo vorbeifließt.
Lugo
Nach 200 km Ausfahrt Lugo-Nord, ohne Maut, und um halb zwölf
in der Stadt mit der römischen Stadtmauer aus dem dritten
Jahrhundert und vielen verfallenden Häusern. Ich finde
schnell einen Parkplatz am Tor nach San Franzisko
(benannt, und sogar in Richtung ...), durchquere eilends die
Stadt (ein verfallendes Haus ist in der Fußgängerzone einfach
mit großen Eisenträgern abgestützt), sehe mir den Dom
an (vollgebaut), den schönen romanischen Christus in der
»Mandorla« und wandere in leichtem Regen über die Mauer
zurück, klaue einen römischen Stein einer Ausgrabung
obwohl dieser Ringweg erkennbar eher etwas für Hundeausführer
und Jogger ist. Ich kaufe noch Andenken bei einem modernen
Trödler (»Second-Hand-Shop«).
Ab aus Lugo um halb eins, km 212, 11,5 Grad,
einmal herum um die Stadtmauer, meine Pilotin heißt das auch
gut, obwohl sie meint, mich immer noch hinein nach Lugo zu
leiten. Dann gebe ich ihr Ribadeo vor, an der Nordküste, da mag
sie wohl hin, obwohl es da an der N-640 wieder an den üblichen
Clubs vorbeigeht ... Eine starke Verkehrsstraße eben. Meine Frau
lässt mich einen virtuellen Kreisel fahren, hat wohl beim
Kartenlernen nicht so genau aufgepasst, der Kreisverkehr ist erst
150 Meter weiter. 84 km bis Ribadeo laut Straßenschildern, sie
meint optimistisch 72. Egal, es geht breit und zügig dem Meer
entgegen, zweimal durch ein Casanova (wir täten
halt Neuhäusl sagen), rechts wieder riesige Farn-»Wälder« und
vor mir Lkws. 575 m der Alvaro-Pass.
Bei Vegadeo am Meer verfahre ich mich wieder
in die Berge. Also zurück, wieder die Palmen am Straßenrand
bewundert, und Richtung Luarca und Oviedo. 14 Uhr Castropol,
halb drei Navia. Wolkenbrüche, Aufklaren,
rechts Berge und Bahnviadukte, links Meeresbuchten und in der
Mitte ich auf der Schnellstraße (vor Navia), ebenfalls auf einem
Viadukt. Die Bahn ist einspurig und so verwunschen, dass man die
Bahnbrücken römisch nennen könnte. Die müsste man mal im
Sommer fahren. Im Wind vor mir wiegen sich Eukalyptusbäume. Sie
winken fast dabei, wie feine Federn, anders als Fichten oder
andere Laubbäume find ich.
Mal in die Berge (160m), mal wieder auf
Meereshöhe, immer mit Kurven. Bei Steigungen ist gern
Überholverbot, das gerade dort keines ist, weil extra eine
Langsamfahrspur da ist, einmal mit einem Eselsgespann mit
Frischfutter drauf. Auf Stelzen gesetzte Heustadel: drunter ein
festes, viereckiges Haus, dann einen halben Meter Luft, dann die
Holzhütte drauf, sonderbar.
Langsam nerven die Kurven, die Lkws, sogar
meine Pilotin, die sich immer wieder fängt und dann »dem
Straßenverlauf sehr lange folgen« plappert. Doch jetzt, nach
400 km Fahrt, wieder Autobahn Richtung Oviedo, dahinter die
verschneiten Kordilleren, super!
Oviedo und Naranco
Um vier nach Oviedo hinein,
»Baedeker-Sterne abfahren«. Im Dom in einer seitlichen,
höhergesetzten Kapelle, der Cámara Santa,
wirklich besonders schöne, ganz schlanke romanische
Säulenapostel und viel Gold im Schatz was mich nach
Aachen nicht mehr aufregt. Leider darf ich die Apostel nicht
photographieren, der Wärter spricht in ihrem Namen
vielleicht, weil sie schlecht abgestaubt sind und zum Teil
nachträglich angeflickte Nasen haben.
Um fünf Uhr Abstecher nach Naranco,
einem höhergelegenen Ausflugsort im Westen von Oviedo, der
Mönchsberg sozusagen. Dort stehen ein paar hundert Meter
auseinander zwei uralte (geschlossene) Kirchen, weiter oben San
Miguel del Lillo, angeblich vor-romanisch, und Santa
Maria del Naranco, noch interessanter, auch von außen
doppelstöckig und eher wie ein fromm gemeinter Nachbau eines
griechischen Tempels wirkend. »Worth a detour«, ums mit
dem Führer zu sagen. Beide stammen aus dem neunten Jahrhundert:
San Miguel war die Kapelle und Santa Maria der Rittersaal Königs
Ramiro I.
Jetzt aber, 450 km hinter mir, 20 vor 6, noch
ein bisschen gefahren. In der Rushhour durch Oviedo die
Spanier könnens flüssiger, find ich und ein
Stück Autobahn, immer Richtung Santander. Doch bald ists
dunkel, die Autobahn zu Ende, irrer Verkehr, und meine alten
Überholkenntnisse kommen wieder zu Ehren: Automatik
runterschalten und ab.
Nachts habe ich bei kurvigen Strecken das
Gefühl, immer weiter nach rechts zu kommen, als führe ich in
einem ganz großen Kreis herum. Wird die Erdkrümmung sein.
Ich fahre noch bis halb acht (575 km 103.991)
bis zum Hotel Mirador an der Playa de la Franca, wo ich 1974 von
Genf aus mit Brigitte und dem BMW 2002 war. Alles ist winterlich
zu; wenige Meilen zurück zu einem (angeblichen) Zweisternehotel
an der Straße, das Hotel-Restaurante-Asador Riega in
Vidiago bei Llanes in Asturien, Tel. 985411011, Fax und
Tel. 985411182, für sagenhafte 2.675 Pesten (31 Mark), nur
leider zur Vorderseite hinaus, laut wie drei Reuterstraßen in
Bonn.
Statistik: 12,5 Grad, 583 km, 104.000
und doch gut geschlafen ...
9. Tag, Freitag, 19. November 1999, Nordspanien-Bordeaux
Schwerer Abschied von Spanien, letzte
Romanik, etwas Romantik, dann aber Industrie und Technik pur,
Regen, Ärger, und zum Schluss ein gutes Motel vor Bordeaux.
Hinaus gings bei acht Grad und
unwirtlichem Wetter nach einer trotz Lärm guten Nacht auf die
regennassen Straßen, gegen halb neun (km 103.999). Bisschen
müde und hungrig bin ich schon, mein Hals ist steif; hatte
gestern Abend das letzte Landliebe-Joghurt aus Bonn mit Kaki aus
Lugo gegessen letztere leicht zermatscht und unten
noch ein Bier getrunken; mich geärgert, dass der etwa
achtjährige Junge des Hauses in der Schankstube allein vor dem
Fernseher saß, und ich nicht genügend Spanisch konnte, um beim
Herrn des Hauses eine entsprechende Bemerkung zu machen. Es lief
eine spanische Seifenoper mit dummen Zweideutigkeiten.
Beim Losfahren Wolkenreißen, Meer,
Landschaft. Ich halte bei einem dieser versteckten Bahnübergänge
neben einem Landsitz mit Hund, und gerade wie ich denke, da
fährt aber schon lange keine Bahn mehr, kommt ein Güterzug
dahergestöhnt zwei Dieselloks davor. Romantische Gegend,
wildes Meer, am Horizont ein Fischerboot.
Ich zweige noch einmal zum Strand von
La Franca ab, von der Straße versteckt sind dort zwei
Campingplätze (»Las Hortensias«, 1a cat.) und eben das Hotel
Mirador, in dem wir 1974 waren. Alles noch wie früher,
das gelbe, wenig attraktive Haus, Parkplatz, Einfahrt, jetzt ganz
leer, abmonierte öffentliche Telefone, nur die Abfalleimer sind
noch voll; ein Mann beim Vernageln eines Fensters, sein Hund
läuft mir nach; unten die Bucht mit dem Sand und dem hinter
einem Steinwall einfließenden Bach, angeschwellt, braun und
reißend wie alle Flüsse aus dem Gebirge heute nach diesen
Regentagen. Am Strand fast keine Muscheln, nur zivilisiertes
Strandgut und verwaschene Dosen, Flaschenpost ohne Post,
rundgeriebene Ziegel und ich in Gedanken ...
Bis die Sonne aufging hab ich noch
schnell gefrühstückt, salzige Landjäger aus Kessenich und
salzloses Brot aus Santiago (»mögen Sie das wirklich?«),
Sprudel aus Aachen und ein vorwitziges lokales
Rotkehlchen, das wohl die Touristen vermisst, sah zu.
Um viertel vor zehn endgültig Abschied vom
Meer, den Wellen und den Wolken drüber, und doch noch schnell
ein paar Pflanzenmuster gepflückt, ein Schilfwedel, braun
»blühender« Judenstrick, rote Hagebutten, schwarze
Ichweiss-nicht-was-Beeren.
Durch den Weiler La Franca, etwas Sonne, viele
Hotels, und noch 75 km bis Santander. Endlich draufgekommen, dass
»cambio del sentido« weder ein sehr populärer
spanischer Ort noch eine Bezeichnung für Geldwechsel ist sondern
schlicht Fahrtrichtungsänderung, ein Umkehren. Dafür
gibts in Spanien überall extra Möglichkeiten
praktisch, tröstlich ... und sehr undeutsch. Auf der alten
Straße, die die neue wie ein Altwasser umschlängelt, kann man
gut stehen bleiben und fotografieren. San Vicente de la
Barquera, Bucht, Brücke, Brackwasser, Hafen, Fluss,
Burg und Kirche letztere hatte ich 1974 in der Sommerhitze
besichtigt, ich erinnere mich noch daran, jetzt wo ich das
schreibe ... Überhaupt erlebe ich diese Ferien mindestens
doppelt, weil ich darüber Tagebuch führe, und vielleicht
mags wer lesen und freut sich dran:
Hügelige, wunderschöne Landschaft, links das
Meer, wallende Anhöhen, rechts die Berge wie nach meinem Motto:
»Und dahinter die Berge!« Unten grün und braun, sogar die
Lagunen leicht moosgefärbt, oben der Himmel wolkenweiß und
bayrischblau.
Altamira, Santillana
Zehn nach zehn, erst 25 km gefahren. Halb elf,
Treseño, und ich denke schon, ich bin die
falsche, die gewundene Küstenstraße gefahren, sehe dann aber,
dass es dort zwei Treseños gibt. Das dritte :-) hab ich
nicht gefunden ... Der Rio Saja hinter Cabezón
de la Sal reißend und sichtlich übervoll. Autobahn,
Regen, dann Ausfahrt Puente San Miguel
eine etwas größere Bahnstation und nach Santillana del
Mar. Vorher noch bei den Altamira-Höhlen
vorbeigeschaut. Wir hatten sie 1974 noch einfach so en passant
besichtigt, heute ist die Wartezeit nach Anmeldung mindestens
drei Jahre! (Wer die Höhlenmalereien wirklich gut sehen will,
sollte das Deutsche Museum in München besuchen.) Dafür war Santillana
schön, ein mittelalterliches Dorf (neu-edel) mit altem
Waschplatz (überlaufend vom Regenwasser) und Andenkenläden
(viel Grust und wenig Leute), mit Lautsprechergregorianik in der
Kirche und doch einem sehr, sehr schönen Kreuzgang,
den mir den Beauftragte für 300 Peseten extra öffnete; am Altar
die vier Evangelisten. Das war mein Abschied von der Kunst. Auf
Kopfsteinpflaster zurück zum Auto, ab nach erst 69 km, 104.070,
12 Uhr.
Steilküste, Industrie, Bilbao und Frankreich
Dann die Fahrt weg: Erst Herumgeirre über
Autobahnen in der Industrielagune von Santander, Bay Area
Traffic, Schilf in der Sonne leuchtend, noch einmal in Fülle die
Küste und die Berge und die Wälder, am schönsten wohl vor Castro-Urdiales.
Ich habe herrliche Sonne.
Bei Mioño Santullán (hinter
Castro-Uriales) wird ein ganzer Berg abgebaut. Wieder
Industriegegend. Auf den Hügeln, wo bei uns ein Krankenhaus
thronen würde, hier zum Beispiel Gastanks oder ein
Containerlager. Aus einem Schornstein in Sestao,
knapp vor Bilbao, schwefliger Rauch, der im Gegenlicht der Sonne
changiert.
Ich rufe Katja in Bilbao an und entschließe
mich, nicht ihre nette Einladung zum Tee um vier anzunehmen. Ich
will weiter.
Autobahnen dreistöckig, »Fremde über
Fremden« (Valentin). Viertel nach eins in Bilbao,
erster Autobahnstau, ein Unfall in der Arizgoiti-Gegend, wo sich
ein kurzes Stück zwei Autobahnen treffen, ein Kameramann rennt
vor, Polizisten winken und pfeifen, damit wir schneller
vorbeifahren; zwei große Autokräne stellen einen Lkw wieder
auf. Auf der anderen Seite genauso Stau bis durch den Tunnel
(nach Basauri). Nach mehr als einer Stunde
Verlust bin ich wieder flott, gestärkt durch meine Nickerchen im
Stau. Immer noch »im Hintergrund die Berge«. Waldgebiet. Braune
Tourismusschilder empfehlen baskisch völlig Unlesbares. Bei Zestoa
rechts oben am Berg ein schweißhelles Licht unbekannter
Herkunft, wie eine Erscheinung.
Irun, die Grenzstadt, die ich
von einem Treffen mit meiner seligen Großmutter in angenehmer
Erinnerung hatte (wir trafen am 11. August 1962 Heinz nach einer
Fahrt von Bozen), Irun wollte ich meiden. Aber der Tank lief
leer, und statt dass ich in meinem eigenen Tagebuch weiter oben
nach der Tankstelle in St Jean de Luz sehe, fahre ich nach Irun
hinein. Irrungen und Wirrungen, dreimal denselben Mautwächter
gesehen, zum Schluss eine Esso-Tankstelle, die mir den
Magnetstreifen meiner Shell-Karte kaputtmacht. Eine halbe Stunde
nur für das Tanken, bis sie mich auf Kosten des Hauses
weiterfahren lassen dabei hatten sie die Karte extra noch
vor dem Tanken geprüft und für gut befunden! Ärger, denn die
Karte geht jetzt nicht mehr, jedenfalls nicht mehr ohne
umständlichen Papierkrieg. Fünf Uhr, 345 km, »Ongi joan!«
gute Reise auf baskisch.
352 km Grenze, ich fahre an vielen, armselig
wartenden Lkws vorbei. Meine Frankreich-Frau (die Navigations-CD)
in den Kofferraum gepackt, Paris eingestellt, das geht nicht,
weil sie alle möglichen Arrondissements haben will, also einfach
Valenciennes, oh Gott, acht Stunden Fahrt.
Bayonne zwanzig vor sechs,
vor mir großes Blitzgewitter, Tempo 150. Dann die gefürchtete
Landstraße, »Carrefour«, nach Bordeaux 112 km, 18.21 Uhr, 456
km, 4 Grad Celsius, stockdunkel, starker Regen, 110
vorgeschrieben, auf 130 Maximum gestellt. Erster deutscher
Fernfahrer. Vor Kurven Rubbelflächen zum Aufwachen, Rappel 110,
Bordeaux kommt näher, wieder Autobahn, 19 Uhr, rechts weite
Wasserfläche, mondbeschienen. Aire Cestas, am Parkplatz kleiner
Kofferraum-Warenhandel, ich 550 km gefahren, 104.551, 4 Grad,
19.11 Uhr, und Quartier gemacht für 295 Franken oder 45 Euro
(egal ob für einen oder zwei; Hotel Campanile an der A63, Campanile@Multiware-Info.Fr,
0557978700, Fax 0557978713). Ein perfektes klassisches Motel:
parken davor, herinn Telefon mit großer, dicker
Direktrückrufnummer am Hörer, Elektroheizung mit Thermostat, im
Bad Ferkelwärmer mit Zeituhr (Atomstromland Frankreich),
Waschbeckenstöpsel (wir sind ja nicht mehr in Spanien ...),
richtige Waschlappen zum Reinfassen; abgehängter Fernseher mit
Digitalzeitanzeige, Kaffeeautomat, mein Schukodreifachstecker
für PC- und Handylader passt, nur kein Western-Anschluss für
den Notebook und seine E-Mail. Das muss bis morgen warten.
Komisch, dass in den Hotels immer noch Zettel
ausgefüllt werden, statt einfach nur den Ausweis zu fotokopieren
...
Es ist halb zehn, bis ich die Klappe zumache,
die vom PC. In der Früh habe ich für das Tagebuch bei
Nescafé noch weitere eineinhalb Stunden zugegeben so was
geht nur allein ...
10. Tag, Samstag, 20. November 1999, heim
Ich ziehe mich etwas schöner an für die
Ankunft. Ab um viertel nach acht, 1 Grad Celsius, die 551,1 km
vom Vortag gelöscht, 104.552. Bewölkt. Nach Valenciennes
das ich als Ziel eingegeben habe sinds angeblich 809
km gleich 6 Stunden 39 Minuten ... Allerdings ist meine Pilotin
immer etwas zu optimistisch! Und bei jedem Start des Motors will
sie neu gebeten werden, in Aktion zu treten. In Deutschland ist
das nicht so. Echt um halb neun los, da noch Luft geholt für die
Reifen.
In Bordeaux fahre ich anders
als sie will, auch das kein Problem. Garonne
nach 20 km. Wie solide Franzosen stelle ich auf 150, 3200 Touren.
Über die Dordogne im großen Bogen um 8.54 nach
38,4 km, weiter unten die alte Bahnbrücke. Verfallene
Landwirtschaft, ein schnell überholender Mercedes SL. Paris 540
km alle Straßenkilometer messen von dort. Royan,
flach, wenige Hügel, Mini-Toskana. Leere Autobahn wie in
Ostfriesland, die Begrenzung unsinnig. Überholvorgänge werden
zum Vorbeigleiten, man kann Grüße austauschen. 9.25 Uhr Pons
(pons, pontis?). 9.37 über die Charente, leise
Sonne, feine Stimmung, ein halbes Grad. 10 Uhr 190 km, Niort,
immer noch in der Ebene, 1 Grad, keine Sonne. Dann gehts
bis auf 150 m hoch, Nebel, in den Tälern die schon blattlosen
Pappeln überhäuft mit Mispeln.
10.15, die »Tramezzini« von der Tankstelle
sind reine Pampe, Filet de Poulet rôtis. 10.40 Uhr, km 282, Poitiers,
160m. Über die Poivre. Ein Metro-Markt,
Lastzüge aus Portugal, die armen! Ein Zukunftsvergnügungspark
mit tollen Gebäuden und Hotels. Beinahe Schnee.
Um 11 schon 303 km gefahren, Paris noch 300,
Regen. Wechselweise schräg oder sonst senkrecht polarisierter
Autobahnfunk, 107,7 MHz. Die Mauten und das Tanken klappen auch
ohne Magnetstreifen man soll sich nie, nie aufregen: Das
wirkliche Leben ist einfacher als man denkt! Km 323 über die
Bienne. Die Loire-Schlösser: Was wird von unserem 20.
Jahrhundert bleiben, das eine Reise wert ist? Um halb zwölf
über die breite Loire. Verkehr immer dichter. Kurz vor 12 Blois,
kein Regen.
Was wohl »Intexo« heißt man
liests ins Spanien oft, sogar auf einem Lkw. Dieses x für
ch hätten die Deutschen bei der Rechtschreibreform auch
einführen sollen, s ist viel kürzer: »Mixel, max mix
nixt an!«
480 km Orleans. Ist schon
bequem mit einem großen Wagen! Man sollte zu zweit fahren, in
einem Kombi, da kann einer schlafen. Vor Paris wieder
Fast-Schnee. Ob Graben und Wall rechts neben der Autobahn
wirklich die Leitplanke gut ersetzen? Dreispurig, leer, und
geschwindigkeitsbeschränkt...
20 km vor Paris um zehn vor eins die Maut.
Riesig hohe Hochspannungsleitungen, wie viele Volt wohl?
Nach 580 km um ein Uhr in Paris,
wieder notorische Linksfahrer, und meine Pilotin führt mich mit
weiser Voraussicht (»demnächst links oder rechts
fahren«, damit man sich schon mal einordnet) und perfekt getimt
durch Paris. Allein hätte ich das nie so gefunden!
Périphérique fluide aber eher durch den Regen. Ein
Blaulicht springt von Spur zu Spur, ein Taxi, das mit mir vom
Flughafen Orly zum Charles de Gaulle fährt, ist auch nicht
schneller als ich. 13.33 Uhr, km 626, Charles de Gaule. Klasse!
Ein Air-France-Flugzeug rollt über mich hinweg.
Tanken 14.30 bei der Ausfahrt Compiègne,
die Brötchenstange von denen ist noch matschiger. km 748, 14.54
Uhr über die Somme. Schlachtdenkmal aus dem »großen Krieg«,
unserem zweiten.
Valenciennes das
Stahlwerk bei km 815 um 15.23 Uhr. Ich kenne die Strecke,
das leere Industriegebäude. Vier Uhr in Belgien,
100 km bis Lüttich, ich 140, Autobahnlaternen, die mir später
noch nützlich sein sollten. 933 km, halb fünf, es wird immer
kälter, Schnee. Mehr Schnee, es schneit. Null Grad. Langsam! Die
Überholspur ganz weiß. Unter null. Dann kein Schnee mehr, aber
klarer Mond, fast voll, weiß über Weißem, es wird noch
kälter, Streudienst und hoppla: Glatteis. Wir stehen bei
Herve, glücklich, denn andere touchierten Leitplanken und
andere. Vier Karambolagen in Folge, gedrehte Wagen, ein
querstehender Militärauflieger, vorne kaputt, jeweils nur ein
paar hundert Meter auseinander.
17.18 Uhr, tausend Kilometer gefahren. Bei -1
Grad langsam übers Glatte. Schön, dass die Lampen an sind: das
gelbe Licht lässt die Straße wie bei Tag übersehen und
macht die verscheiten Zeige geisterhaft heimelig. In Deutschland
dann, 17.41 Uhr, Dunkelheit und Raserei bis zum Stau in
einer einspurigen Baustelle. Die automatische
Geschwindigkeitsregelung zeigt den Stau zu früh, man
glaubts ihr nicht.
Vor Bonn dann auf der A 555 zur Freude 230
km/h, und um 18.43 Uhr nach 1122,3 km Fahrt an diesem Tag zu
Hause!
Statistik:
4.786 km
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sola vide nur fromm gucken
Wer recht will Pilger-Reisen, jedenfalls nach Santiago, der muss sich seit Alters her einen Pilgerbrief ausstellen lassen, Credencial genannt, muss täglich stempeln und vor allem mindestens hundert Kilometer zu Fuß oder zu Pferd gen Compostela ziehen, Radfahrer das doppelte. Kommt die nötige Frömmigkeit dazu, dann gilt die Tat etwas vor dem Herrn, wenigstens vor dem kirchlichen Pilgerbüro: Der Secretarius Capitularis stellt eine lateinische Bestätigung aus, die Compostela, womit man zu Hause belegen kann, dass man es geschafft hat. Das gelbe Röllchen wird stolz auf den Rucksack geschnallt, wenn es alsdann zur Zwölf-Uhr-Pilgermesse geht. Soweit die Sitten seit dem vierzehnten Jahrhundert. Inzwischen gilt wieder sola fide nach Römer 3,28 eine Pilgerreise ist eher zu einer sportlichen Gelegenheit geworden, veranstaltet von Touristik-Unternehmen. Pilger wandern bunt bekleidet wie Jogger, Camper oder Skiläufer. Und für den Technikreisenden genügt ein Handy zum On-line-Beweis seiner Fahrt. Damit stellt er sich mitten vor die Kathedrale und ruft daheim an, empfiehlt den Internet-Browser anzuwerfen und die Adresse www.Xacobeo.Es einzustellen. Dann winkt er den fernen Ungläubigen über eine der hoch über den Häuptern angebrachten Videokameras zu. Das weltweite Web machts möglich.
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Auskunft gibt das Pilgerbüro Oficina.Peregrinos@Planalfa.Es.
Xacobeo ist von Jacobeo abgeleitet, dem Jahr des heiligen Jakob, galizisch mit X geschreiben, 1999. Das Año Santo Compostelano wird gefeiert, wenn der 25. Juli, das Fest des Martyriums des Apostels Jakobus auf einen Sonntag fällt. Die heilige Pforte, eine Hintertüre der Kathedrale gegen Osten, wird dann geöffnet. Nach 1999 ist das nächste heilige Jahr 2004. 1991 kamen 25.179 bestätigte Pilger aus 72 Ländern.
Im heiligen Jahr gibt es einen vollkommenen
Ablass, wenn man in der Kathedrale ein Vaterunser und ein
Glaubensbekenntnis für die Absichten des Papstes betet, 15 Tage
vorher oder nachher beichtet und kommuniziert.
Beichtväter, die rechtmäßig die
Beichtbefugnis besitzen, dürfen in der Kathedrale, in den
Stadtpfarreien und am Monte do Gozo die Beichte abnehmen. Sie
sind ermächtigt, die Beugestrafen »latae sententiae«
nachzulassen, ausgenommen diejenigen, die dem apostolischen Stuhl
vorbehalten sind (vergleiche CIC Kapitel 1367, 1370, 1378.1,
1382, 1383) und unbeschadet der Vollmachten, die ihnen die
Kapitel 976 und 1357 einräumen. Die Beichtväter dürfen
ebenfalls Gelübde und Versprechungseide unter den Bedingungen
dispensieren beziehungsweise umwandeln, die vor der Kirche
festgesetzt sind (vergleiche Kapitel 1196 und 1203).
Ansteuern entweder:
http://www.Xacobeo.Es (oft langsam oder schlecht)
und sich durchklicken
oder direkt zum Beispiel für die genannte
Kamera am Obradoiro-Platz:
www.crtvg.es/camweb/index.asp?id=9&mn=COR bezw. der Pilgerpforte (id=10).
Adressen des Pilgerbüros Oficina de Acogida al Peregrino
http://www.ArchiCompostela.org
mailto:Oficina.Peregrinos@Planalfa.Ed
Tel. +34-981-562419 und +34-981-566577
Fax +34-981-566030
Rúa del Vilar 1, 1. Stock, 9-21 Uhr
Römer 3,28: So halten wir denn dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.
(Xacobeo.doc)
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